"Sophie, komm endlich! Meine Oma wartet sicher schon."
Wie immer konnte sich Lynn-Sophie nicht von dem Anblick der wundervoll verzierten Torten im Schaufenster der kleinen Bäckerei an der Ecke lösen. Sie liebte das Backen, war ziemlich dünn und muskulös. Sie war eine hübsche Japanerin und war stolz auf ihre Herkunft. Oriella und Lynn-Sophie waren auf dem Weg zu Orietta, der "Kräuterfrau", wie man sie schon nannte. Diese lebte in einem kleinen Häuschen, das gleichzeitig auch ihr Laden war. Das Häuschen war in einem Hügel eingebaut worden. Es hatte winzige Fensterchen und eine kleine Holztür.
Durch die kam keiner, außer Orietta öffnete sie.
Der bewohnte Hügel war mitten im Wald und jeder rätselte, wie der Hügel dorthin kam, denn nirgendwo gab es einen vergleichbaren Hügel, alles war flaches Land.
Ein kleiner Weg zweigte vom großen Weg ab und führte bis zu dem Hügel. Damit man den kleinen, von wildem Faun und Sträuchern gesäumten Weg nicht verpasste, zeigte ein Schild der Kundschaft den Weg. Auf ihm stand einfach nur:
Orietta Di Rossi
Wer nicht wusste, dass sie einen bahnbrechenden Laden besaß und ihre Produkte tatsächlich halfen, würde einfach nur stirnrunzelnd vorbeilaufen. Die Produkte waren Tees. Aber keine gewöhnlichen, um Himmels willen, nein! Sobald man Schnupfen hatte, Übelkeit verspürte oder eine schmerzliche Verletzung erlitten hatte, musste sich nur einen ganz bestimmten Tee kaufen, ihn trinken und schon war die Behandlung vollkommen.
Brav klopfte Oriella an die kleine Holztür und gleich darauf wurde sie knarzend von ihrer Großmutter geöffnet.
"Oh, hallo Mädels! Kommt rein, kommt rein", flötete die alte Frau.
Oriella und Lynn-Sophie staunten wie immer beim Anblick dieses Raumes. Die Wände waren alle aus Stein, außer die Decke. Diese bestand aus Erde und Wurzeln der obendrauf wachsenden Gräser. Die steinernen Wände sah man allerdings kaum, denn an jeder standen Regale aus uraltem Holz und in ihnen standen viele kleine, gläserne Gefäße die mit allerlei Namen beschriftet waren. In ihnen waren pulverisierte Wurzeln, Blumenblätter und Kräuter die alle zu einer Sache nützlich waren: Heilung. Jedes Pulver löste sich auf, wenn es mit heißem Wasser in Berührung kam und jeder fragte sich, wie das funktionierte, doch jeder hörte auf darüber nachzudenken wenn er über die heilende Wirkung des Tees staunen konnte. In der Mitte des Raumes standen zusammengestellte Tische worauf auch die gläsernen Gefäße Platz fanden aber dieses Mal nicht pulverisiert, sondern so, wie man die Pflanze erntete. Zum Beispiel werden die Blätter des Basilikums einfach in das Glasgefäß gelegt, es wird verschlossen und schon in den Laden gestellt. Bei Halsschmerzen kann man sich dann diese Blätter aufbrühen und es trinken. Jedoch kann man diese Blätter bis zu drei Mal benutzen, das war das besondere an ihnen.
Die Frage, wie die Blätter so frisch bleiben können, bleibt jedoch.
An den wenigen leeren Flecken an den Wänden hingen Kerzenhalter deren Kerzen unermüdlich leuchteten. An der Wand gegenüber der Eingangstür stand ein weiterer Tisch, der eine alte Kasse trug. Gleich dahinter war eine weitere Tür, die sich ebenfalls nur von der Ladenbesitzerin öffnen ließ. Dahinter gab es eine Treppe, die nach unten, tief in die Erde, führte. Dort erwartete einem in der Mitte des Raumes Oriettas Koch- und Heizstelle, eine kreisrunde Mulde mit Holzstücken drin die immer angezündet waren. Über dem Feuer hing ein riesiger Kessel indem ständig irgendetwas vor sich hin blubberte.
Oriella hatte schon aufgehört zu fragen was ihre Oma denn ständig kochte, denn Orietta antwortete ihr nie auf diese Frage. Erst recht nicht Oriana, Oriellas Mutter. Diese sagte dann nur abweichend: "Ach, bestimmt nur ihr Essen.", oder: "Wahrscheinlich kocht sie sich bloß einen Tee." Aber Oriella wusste, dass es nicht die Wahrheit war und sie wusste auch, dass die Wahrheit etwas großes war. Etwas, was nicht jeder wissen durfte. Zurzeit akzeptierte sie, dass sie dieses Familiengeheimnis nicht wissen durfte. Aber bald wurde Oriella dreizehn Jahre alt und dann war sie ja wohl alt genug!
In einer Ecke war ein Bett, das an vier Seilen von der Decke hing. Irgendwie hielt dieser Hügel das Gewicht aus, das war auch eines der seltsamen, unerklärlichen Dinge. Der schwarze Kater Leonardo hatte ein eigenes Plätzchen auf einer kuscheligen Decke am Feuer und an den Wänden hingen die fantastischsten Pflanzen. Es gab einen langen Tisch mit merkwürdigen Gartenwerkzeugen, wie zum Beispiel verschiedene Arten von Scheren, Schaufeln, Gießkannen und Mini-Grubbern. Auf dem Tisch gab es auch verschlungene Glaskonstruktionen, die, laut Orietta, der Pflanzenforschung dienten. In Reagenzgläsern lagerten oft tote Insekten oder stinkende Flüssigkeiten. Dann gab es fast neben dem Bett noch ein kleines Tischchen mit zwei Stühlen, an dem gegessen wurde. Alles getränkt im orange-gelben Schein der Flammen und Kerzen an den Wänden.
Einmal hatte das schwarzhaarige Mädchen mit den waldgrünen Augen gefragt: "Oma, warum hast du eigentlich keinen Strom? Wieso hast du ein offenes Feuer, anstatt einem Herd?" Orietta hatte geantwortet, mit einem kecken Grinsen im Gesicht: "Denkst du etwa, die Leitungen gehen bis tief in den Wald?"
Da Oriella nun auch ein Smartphone besaß, konnte sie sehen, dass es im Wald sogar Internet gab! Strom müsste dann doch kein Problem sein? Aber ihre Großmutter hatte sowieso den Ruf, ein bisschen im Mittelalter stecken geblieben zu sein, da bereitete ihr steinzeitliches Häuschen kein Problem für die Familie.
Die Di Rossis waren allesamt Italiener. Ihre Blutlinie ließ sich bis ins tiefste Jahrhundert verfolgen und Oriella hatte einmal Bilder ihrer ältesten Ahnen gesehen. Alle, aber besonders die Frauen, hatten seltsam lange und gebogene Nasen, was aber, je jünger die Ahnen waren, immer mehr verschwand. Erleichterung überkam Oriella, als sie daran dachte, dass schon bei ihrer Mutter Oriana nichts mehr von diesem Huckel zu sehen war.
Lynn-Sophie fragte höflich: "Haben Sie vielleicht wieder den Tee vom letzten Mal? Der half mir so gut beim konzentrieren."
"Aber klar, mein Kind. Du weißt doch, dass du mich duzen darfst.", antwortete Orietta während sie in einem Regal kramte und schließlich fand, was sie suchte.
Die alte Frau schlurfte zurück zu den Mädchen und reichte der Freundin ihrer Enkelin eines der vielen Glasgefäße. "Hier hast du deinen Grünen Tee. Du weißt ja, wie das geht, nicht?"
"Aber klar doch. Dankeschön, Orietta. Und jetzt muss ich auch schon nach Hause, die Hausaufgaben warten. Tschüss ihr beiden!", verabschiedete sich Lynn-Sophie und wartete, bis Orietta ihr die Haustür öffnete.
"So mein Schatz, was möchtest du essen?"
Oriella schien unschlüssig, eigentlich hatte sie gerade Appetit auf Lasagne. Wie, als hätte ihre Oma ihre Gedanken gelesen fügte diese zu ihrer Frage hinzu: "Ich habe noch Lasagne, wenn Leonardo sie nicht heimlich aufgefressen hat." Der schwarze Kater war nirgends zu sehen.
Schnell nickte das Mädchen mit dem Kopf und folgte ihrer Oma in das untere Geschoss, wo sie sich auch gleich an den Tisch setzte. Neugierig betrachtete sie ein dickes, in abgewetztes braunes Leder gebundenes Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Die Seiten mussten mindestens genauso alt sein wie das Holz, aus dem die oberen Regale gemacht wurden: uralt. Das Papier hatte bereits eine gelbliche Farbe angenommen und sah so aus, als ob es kurz vor dem Zerbröseln stand. Oriella registrierte, dass auf den Seiten Zeichnungen von komisch aussehenden Pflanzen und Beeren, so wie Zeichen abgebildet waren, die sie noch nie gesehen hatte. Zugegeben, ihre Oma Orietta war oft sehr merkwürdig und mysteriös, aber das hatte doch etwas zu bedeuten! Gerade als die kleine Italienerin die nächste Seite aufschlagen wollte, trat ihre Oma an den Tisch mit zwei Tellern, auf denen jeweils ein großes Stück Lasagne thronte. Das Wasser lief Oriella im Munde zusammen und schnell vergas sie das Buch wieder, welches Orietta eilig, aber mit einem Grinsen wegräumte.
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Teezeit - Die italienische Hexe
Fantasi"Sie darf nie etwas davon wissen." "Oriana, sie ist deine Tochter! Sie wird die Wahrheit finden. Sie wird bemerken, dass sie kein Mensch ist, so wie du damals." Oriella Di Rossi ist ein kluges Mädchen. Was sie nicht weiß: Sie ist die Enkelin eines M...