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Kapitel 1

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»Das Übliche?«, fragte ich mit einem freundlichen Lächeln und sah den alten Mann vor mir erwartungsvoll an. Die vielen Falten, die sein Gesicht zierten, trugen so viele Geschichten mit sich, während die wenigen grauen Haare, die er noch besaß, sein hohes Alter nur noch deutlicher zum Vorschein brachten.

»Ja, bitte«, antwortete er und nickte mir dankbar zu. Wie jeden Morgen hatte Claron sich seinen Platz im hintersten Eck des kleinen, sehr familiären Lokals ausgesucht. Manchmal gab er mir Trinkgeld und jedes Mal aufs Neue versuchte ich, höflich abzulehnen, wusste ich doch, dass keiner in diesem Dorf viel Geld besaß – besonders niemand, der bereits zu alt war, um zu arbeiten. Trotzdem schaffte es der alte Mann meistens, es mir anzudrehen. Schon seit einem Jahr verdiente ich hier mein Geld und konnte mir keinen besseren Ort vorstellen, um meiner Arbeit nachzugehen. Die Fenster waren immer passend zur Jahreszeit geschmückt, auch jetzt zierten blaue und rote Blumen das Glas, um den Frühling zu ehren. Die runden Holztische mit den passenden, gepolsterten Stühlen verliehen dem Lokal Gemütlichkeit und die strahlenden Menschen ließen jeden Neuankömmling einen Ort zum Wohlfühlen finden.

Ich begab mich wieder zu der kleinen Theke, hinter der ich bereits alle Zutaten für das sehr beliebte Frühstück zurechtgelegt hatte. Und gerade als ich nach einem Messer griff, um die vielen, verschiedenen Früchte, die uns aus dem Osten von Iskarús gebracht wurden, in kleine Stücke zu schneiden, schwang die schmale Eingangstür mit einem lauten Quietschen auf. Lero, der Mann, in dem ich einen zweiten Vater gefunden hatte, stand im Türrahmen.

Nicht sein Erscheinen, sondern sein Gesichtsausdruck war es, der mich innehalten ließ. Gewöhnt war man das warme Lächeln auf seinen Lippen, das sein ständiger Begleiter zu sein schien, egal, wo man ihn antreffen mochte. Doch in diesem Moment erschien sein Ausdruck gehetzt, zerstreut und vollkommen aufgekratzt. Sofort legte ich das Messer zur Seite und kam hinter der Theke hervor. Irgendetwas stimmte nicht und das schienen auch alle anderen Besucher des Lokals zu merken. Es war totenstill geworden.

»Es ist hier.« Sein Blick ging ins Leere und er sprach leise, so, als hätte er Angst, seine Stimme zu heben, als hätte er Angst, jemand Falsches könnte ihn hören. Doch kaum hatten die wenigen Worte seinen Mund verlassen, hörte man das angespannte Gemurmel ausbrechen. Nur ich stand wie zuvor da und versuchte, den Grund für die plötzliche Aufregung zu verstehen. Mit gerunzelter Stirn sah ich mich um und konzentrierte mich darauf, einige Wortfetzen aufzufangen.

»Grausam –«

»– Schiff.«

»– Tod –«

Ich drehte mich wieder zu Lero und sah ihn verständnislos an. Auch sein Blick haftete an mir, während die Sorgenfalten auf seiner Stirn immer tiefer wurden.

»Wovon sprechen alle hier? Was für ein Schiff?«, traute ich mich schließlich, meine Frage zu stellen, und als hätte jeder einzelne darauf gewartet, wurde es erneut still.

Lero seufzte tief, strich sich durch sein graues Haar und kam einige Schritte auf mich zu. »Du hast es schon mal gesehen, Tavia. Weißt du noch vor einigen Jahren, als wir in der Nacht den Sternenhimmel anschauen wollten?« Er brauchte nichts mehr zu sagen, denn ich wusste sofort, wovon er sprach.

Es war wunderschön gewesen. Anmutig war es über das Meer gesegelt, es schien, als hätte ein sanftes Licht das Schiff umgeben, als sei es nicht von dieser Welt. Es hatte mir den Atem geraubt und nächtelange hatte ich davon geträumt. Doch immer wenn ich Lero hatte von meinen Träumen erzählen wollen, hatte er mich mit strengem Blick angesehen und mir eine lange Rede darüber gehalten, dass dieses Schiff alles andere als für schöne, angenehme Träume gedacht war. Seitdem war er nie weiter auf dieses Thema eingegangen und um ehrlich zu sein, hatte ich mich auch nicht mehr getraut, es wieder anzusprechen.

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