Prolog

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Mit zitternden Beinen stand ich vor dem Rat der Ältesten. Heute war mein vierzehnter Geburtstag und ich würde endlich die Aufgabe bekommen, die ich erledigen musste, um in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Hoffentlich war es eine Aufgabe, die ich in wenigen Tagen schaffen konnte. Es gab allerdings auch welche, die Jahre dauern konnten.
Nun erhob sich der Älteste. „Du hast diesen Tag bestimmt schon sehnsüchtig erwartet", meint er, „also werde ich auch gar nicht lange reden. Du weißt ja, wie das alles abläuft, da deine Eltern beide im Rat sind."
Nervös blickte ich zu meinen Eltern. Von Kindern von Ratsmitgliedern wurde meist mehr erwartet als von anderen, deshalb erwartete ich bereits, eine etwas schwierigere Aufgabe gestellt zu bekommen.
„Sobald du deine Aufgabe erledigt hast, gehörst du offiziell zur Gemeinschaft der Erwachsenen", fuhr der Älteste fort. „Nun zu deiner Aufgabe. Coralie, ich weiß, dass ich dir vertrauen kann und ich weiß auch, dass du ein wirklich schlaues Mädchen bist. Deshalb habe ich für dich eine ganz besondere Aufgabe. Eine Aufgabe, die das Leben von uns allen verändern wird."
Ich wischte mir meine verschwitzten Hände an meinem violetten Kleid ab. Ich wollte doch gar keine besondere Aufgabe. Das würde ich doch nie schaffen.
„Du weißt ja bestimmt von unserem Plan, die Menschenwelt zu beherrschen", erzählte er. „Einige Schattenwesen sind schon dort, um alles vorzubereiten. Auch du sollst eins von diesen Schattenwesen sein. Besuche eine Menschenschule und bringe die Schüler und auch Lehrer dazu, dich zu vergöttern."
Ich hatte schon immer von dem Tag geträumt, an dem wir die Menschenwelt endlich in unsere Gewalt bringen würden, doch nie hätte ich gedacht, dass ich selbst dazu beitragen würde. Aber eigentlich hatte ich nichts gegen diese Aufgabe. „Und wie lange muss ich dann dort bleiben?"
Der Älteste senkte den Blick. „Das ist das Problem. Wenn du in der Menschenwelt bist, kannst du nicht mehr zurück in die Schattenwelt. Das heißt, du wirst dort bleiben müssen, bis wir die Welten vereint haben."
Mir blieb der Mund offen stehen. Das konnte doch noch Jahre dauern! Aber ich durfte die Aufgabe nicht ablehnen, sonst würden sie mich verbannen. Ich seufzte. „In Ordnung. Aber kann ich dort wenigstens meine Kräfte einsetzen?"
Der Älteste zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Lass dich nur nicht dabei erwischen. Kein einziger Mensch darf erfahren, dass du nicht so bist wie sie." Dann verschwand er in seinem eigenen Schatten.
Während es ihm die meisten anderen Ratsmitglieder nachtaten, kamen meine Eltern auf mich zu. „Du schaffst das, Coralie", versprach meine Mutter. „Das weiß ich einfach. Und wir werden stolz auf dich sein."
Mein Vater nickte. „Ja, das werden wir", stimmte er zu. „Aber jetzt musst du los."
„Warte!", rief ich. „Wo muss ich denn hin? Ich meine, wo ist die Menschenwelt? Ich war doch da noch nie? Wie finde ich mich da zurecht?"
Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. „Vertrau auf deine Fähigkeiten. Sie werden dich überall hinbringen, wo du willst." Dann lösten sich er und Mum genau wie alle anderen in Luft auf.
Meine Fähigkeiten? Meinte er etwa das Schattenspringen? Möglich wäre es. Aber um ganz sicher zu sein, musste ich es ausprobieren.
Genau wie zuvor alle anderen Ratsmitglieder trat ich einen Schritt zurück und nahm dann meine Schattengestalt an, um an einen anderen Ort zu gelangen. Normalerweise musste ich dafür ein klares Ziel vor Augen haben, doch jetzt dachte ich einfach nur an die Menschenwelt. Würde ich mich dort befinden, wenn der Nebel um mich herum verschwand?
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Als sich der Nebel langsam auflöste, sah ich vor mir ein riesiges Gebäude. Ich hatte so etwas schon im Fernsehen gesehen. Es war eine Menschenschule.

Schattenwesen - Der AuftragWo Geschichten leben. Entdecke jetzt