Auftrag erledigt

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Ich war mittlerweile seit über einem Jahr in der Menschenwelt. Die anderen Schüler und auch die Lehrer vergötterten mich, genau wie der Älteste es befohlen hatte. Und trotzdem war ich distanziert geblieben. Das war gut so, denn es wäre nicht so klug, Freundschaften zu schließen, nur um danach über meine Freunde zu herrschen. Oder sie gar umzubringen. Meine Eltern waren bestimmt stolz auf mich.
Das einzige, was mich störte, war, dass ich von meinen Freunden und Verwandten aus der Schattenwelt seit über einem Jahr nichts gehört hatte. Ich vermisste sie so sehr. Außer mir gab es nicht viele Schattenwesen in der Menschenwelt und die mussten sich versteckt halten. Also gab es hier niemanden, mit dem ich über alles reden konnte.
Doch ich verstand nicht, warum sie nicht kamen, um die Menschenwelt zu erobern. Ihr Ziel war es, dass es einige Schattenwesen gab, denen die Menschen vertrauten, damit sie keinen Aufstand machten. Aber mir vertraute mittlerweile jeder und anderen Schattenwesen in der Menschenwelt ging es bestimmt schon genauso. War das denn immer noch nicht genug?
„Hey, Cora!", rief plötzlich eine Stimme hinter mir, als ich gerade durch die Eingangstür der Schule ging. „Warte doch mal!" Die Stimme gehörte Elisabeth, meiner Mitschülerin.
Ich drehte mich zu ihr um und lächelte sie breit an. „Elisabeth! Das ist ja schön, dich zu sehen. Ich wollte gerade mit dir über die Party heute Abend reden."
Neugierig blickte sie mich an. „Welche Party denn? Ich weiß überhaupt nichts von einer Party."
„Das liegt daran, dass ich das gerade erst entschieden habe", erklärte ich. „Heute Abend um sieben bei mir. Sagst du das bitte an alle weiter?"
Aufgeregt nickte sie. „Aber natürlich! Es ist echt so cool, dass du eine eigene Wohnung hast und nicht mit deinen Eltern zusammenleben musst."
„Ja, das finde ich auch." Zum Teil stimmte das sogar. Manchmal hatten mich meine Eltern ganz schön genervt. Trotzdem vermisste ich sie sehnlichst.
„Kannst du bei meinen Eltern nicht auch mal ein gutes Wort für mich einlegen?", fragte sie in flehendem Tonfall.
„Ich kann es ja mal versuchen", erwiderte ich und lächelte dann entschuldigend. „Ich muss los, ich hab gleich Mathe bei Mr Miller."
„Dann bis heute Abend", rief sie und hüpfte dann vergnügt davon. Ich hörte noch, wie sie ein paar Jungs von meiner Party erzählte.

„Ich verstehe einfach nicht, was diese ganzen Mädels an dir so toll finden", hörte ich da eine tiefe Stimme hinter mir. „Und sogar die meisten Jungs hast du schon um den Finger gewickelt. Respekt."
Gabriel. Er schien mich zu hassen wie die Pest. Da war er aber auch der einzige hier. „Irgendwann wirst du meinem Charme schon noch verfallen."
Er lachte sarkastisch. „Das glaubst du ja wohl selbst nicht! Hör mal, ich weiß nicht genau, was hier abgeht, aber ich spüre, dass etwas mit dir nicht stimmt. Und ich werde herausfinden, was das ist. Das verspreche ich dir."
Damit drohte er mir beinahe jeden Tag. Doch bisher hatte er noch nicht wirklich etwas unternommen. „Kannst du vielleicht mal mit deinen Verschwörungstheorien aufhören? Das geht mir echt auf die Nerven."
„Und wie?", wandte er ein. „Ich verstehe einfach nicht, warum es dir so wichtig ist, dass dich jeder mag."
Ich seufzte. „Das ist eine wirklich lange Geschichte. Und sie würde dich bestimmt nicht interessieren."
Plötzlich wurde seine Stimme weicher. „Und ob sie mich interessiert! Cora, bitte sag es mir doch einfach. Ich werde es auch niemandem verraten."
„Und wie soll ich jemandem vertrauen, der mir droht?", entgegnete ich. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht."
„Ich verstehe dich ja", erwiderte er. „Aber es war wirklich nicht meine Absicht, dir zu drohen. Ich bin nur immer so neugierig, wenn jemand Geheimnisse vor mir hat."
„Also schön", willigte ich ein. Er wollte eine lange Geschichte, die konnte er haben. „Aber nicht hier."

Zehn Minuten später saßen wir nebeneinander am Flussufer und ich starrte auf das klare Wasser, während ich mir genau überlegte, was ich erzählen würde. „Das Problem war meine alte Schule", fing ich an. „Mich konnte dort niemand wirklich leiden. Einige der Schüler haben angefangen, mich zu ärgern und es ist immer schlimmer geworden." Ich tat, als würde ich mir eine Träne von der Wange wischen. „Irgendwann war es dann Mobbing. Es wurde so schlimm, dass ich die Schule wechseln musste. Und ich habe mir geschworen, dass auf dieser neuen Schule alles anders werden würde. Und das ist der Grund, warum ich will, dass jeder mich mag."
Plötzlich sah er ehrlich bedrückt aus. „Oh, das wusste ich nicht. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen."
„Hast du aber", entgegnete ich, „und daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern. Also erzähl ruhig alles den anderen, damit sie mich auslachen können. Das bin ich ja gewohnt." Ich stand auf und drehte mich um.
„Coralie, warte doch!", rief mir Gabriel nach und sprang ebenfalls auf. Dann fasste er mich an der Schulter. „Ich werde es niemandem erzählen. Das bleibt unter uns. Versprochen."
Innerlich jubelte ich. So wie es aussah, mochte er mich nun auch. Also war mein Auftrag erledigt. Vielleicht würden die anderen Schattenwesen nun doch hier auftauchen. Doch ich bezweifelte, dass es so einfach war.
Ich bemühte mich, meinen ernsten Gesichtsausdruck zu behalten. „Danke, das bedeutet mir wirklich viel."
„Weißt du, ich verstehe dich jetzt", meinte er. „Und ich werde dir nie wieder auf die Nerven gehen. Versprochen."
Das war perfekt! Absolut jeder an der Schule konnte mich gut leiden! Genau das wollte der Älteste doch!
Aber als ich in Gabriels Augen sah, bekam ich plötzlich Schuldgefühle, weil ich ihn so angelogen hatte. Er war doch eigentlich ein lieber Junge und hatte es nicht verdient, belogen zu werden. Doch ich war immer noch ein Schattenwesen. Ich sollte keine Rücksicht auf irgendwelche Menschen nehmen.

Schattenwesen - Der AuftragWo Geschichten leben. Entdecke jetzt