Alles beim Alten

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Bildquelle: pinterest

„Mira, ist alles in Ordnung?“ Finns Stimme hörte sich an wie aus weiter Ferne.
„Ja, ich muss nur mal an die Luft.“ Ohne weitere Erklärungen lief ich nach draußen. Es dämmerte, man konnte nur noch Schemen erkennen, aber das reichte mir. Ich lief durch den Wald, den ich mittlerweile wie meine Westentasche kannte. Auf den Weg brauchte ich nicht zu achten. Es roch nach frischer Luft und hereinbrechender Nacht. Grillen zirpten. Langsam kam ich zur Ruhe.
Unbewusst lief ich genau zu der Lichtung, auf der der Vampir in mir erwacht war und ich die Frau vor vielen Jahren getötet hatte. Doch ich war nicht allein, das merkte ich sofort. Und ich merkte augenblicklich, wer es was.
Leise setzte ich mich an einen Baum, so dass ich ihm gegenüber saß. Er schaute mich nicht an. Aber ich tat es. Ich betrachtete ihn eingehend, obwohl ich im Dämmerlicht nicht viel erkennen konnte.
„Wie hältst du das nur aus?“, fragte Jace irgendwann.
„Was?“
„Cole. Er ist alt geworden.“
Nun senkte ich meinen Blick. „Er ist nur früh grau geworden. Er ist gerade mal achtunddreißig.“ Ich fragte mich im selben Augenblick, ob ich damit ihn oder mich überzeugen wollte.
„Na und? Es wird nicht dabei bleiben. Du siehst noch genau so aus wie damals.“
Ich wusste, dass er recht hatte.
„Ich hab so viel verpasst. Meine Nichte habe ich nicht aufwachsen gesehen und ich hätte dich so gerne in diesem Abschnitt begleitet. Anna sieht dir so unfassbar ähnlich. Nur die Haarfarbe hat sie von Cole.“
„Und Lukas sieht dir ähnlich.“ Ich war nun froh, dass er in der Dunkelheit meine Tränen nicht sehen konnte. „Jetzt schon.“
„Und Finn erst. Er hat deine Haare und Iras Augen. Und jedes Mal, wenn ich ihn anschaue, sehe ich Papa in ihm.“ Jace weinte. Ich stand auf und ging zu ihm. Endlich nach so langer Zeit konnten wir uns wieder in die Arme schließen. Äste stachen mir in das Bein, als ich mich an seine Brust schmiegte, aber momentan war mir das egal. „Mira, ich hab so Angst davor, dass Cole eines Tages gehen wird. Selbst wenn es noch Jahre sind. Ich kann es nicht aufhalten.“
Ich hätte am liebsten ich auch! gerufen, aber ich verbot es mir. „Niemand kann die Zeit aufhalten.“
„Ich werde nicht mehr gehen. Ich werde nun hier bleiben und euch jeden Tag besuchen“, bestimmte Jace. „Oh, Mira, ich hab dich so vermisst.“ Er fuhr mit seiner freien Hand in mein Haar. Ich presste meine Lippen gegen seine Brust. Ihm zu antworten, wagte ich nicht.
„Bitte trink von meinen Blut“, bat er leise.
„Nein“, hauchte ich, auch wenn ich nichts lieber getan hätte. Als er sich aufrichtete, musste ich es unweigerlich ebenfalls tun. Sein Atem streifte meine Wange: eine stumme und unsichere Bitte, ihn zu küssen.
„Nein“, hauchte ich abermals und senkte den Kopf.
„Nein“, wiederholte er.
„Nein“, schluchzte ich. Es war so unfair und schmerzvoll. Ich konnte nicht verstehen, wieso ich ihn so sehr wollte. Wie konnte man zwei Männer gleichzeitig so intensiv lieben? Denn das tat ich. Aber Cole war mein Seelenpartner.
Jace wischte meine Tränen fort. „Es ist okay“, flüsterte er.
Ich war mir nicht sicher, was er meinte, trotzdem nickte ich. Dann stand ich auf, um damit hoffentlich meine Zukunft zu besiegeln.

Tränen von ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt