Unbemerkt (Jace)

37 4 0
                                    

Bildquelle: pinterest

Man spürt niemals größere Schmerzen, als wenn man stirbt. Im Kopf. Im Herzen. Die Angst.
Nein, das stimmt nicht.
Unerträglich ist es erst, wenn Mira stirbt.

Finn saß auf meiner Couch, als ich ins Büro kam.
„Wie kommst du denn hier rein?“, fragte ich erstaunt. „Hab ich nicht abgeschlossen?“
„Nein, hast du wohl vergessen.“
Ich hatte noch nie vergessen abzuschließen. Was war nur los mit mir? Unwillkürlich fragte ich mich, was Mira mir über Finn hatte sagen wollen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich, als Finn nicht von selbst zu sprechen begann. „Musst du nicht in den Unterricht?“
„Wir haben Sonntag, da ist kein Unterricht“, erwiderte er.
Ich nickte und setzte mich ihm gegenüber aufs Sofa. „Also, was ist los?“
Finn starrte vor sich und reagierte nicht. Er atmete auch nicht, obwohl ich ihm beigebracht hatte, dass es gefährlich werden konnte, wenn er es vergaß und Menschen das mitbekamen. Er hatte es noch nie vergessen. Etwas schien ihn sehr zu beschäftigen.
Ärger stieg in mir auf, als mir dann urplötzlich eine Idee kam, die mir alles Blut aus dem Gesicht weichen ließ. Ich beugte mich vor. „Hör zu, wenn etwas... passiert sein sollte, etwas Schlimmes, musst du es mir sagen. Ich kann dich verstehen. Ich habe auch schon... getötet.“ Mir wurde schlecht. Eben noch war ich bei Linda gewesen.
„Nein!“ Finn riss erschrocken die Augen auf. „Nein, das ist es nicht.“ Er lachte kurz trocken auf und rieb sich das Gesicht. Seine Hände bebten. Ich hatte ihn noch nie so erlebt. „Ich... hab mich verliebt.“
Er schaute mich nicht mal an. Da konnte ich nicht anders, als aufzulachen.
„Finn“, sagte ich erleichtert, „das ist kein Weltuntergang. Im Gegenteil. Liebe ist was ganz Wunderbares!“
Er lächelte verlegen. „Schon, aber du hast mit mir nie über so was gesprochen.“
Meine Erheiterung schwand. „Tut mir leid. Ich wusste nicht wie und ich dachte auch, Linda... hätte das gemacht.“
„Du bist mein Vater.“
Autsch. Wie er doch recht hatte. Ich setzte mich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. „Ich weiß. Es tut mir wirklich leid. Bitte verzeih mir. Sollen wir... das nachholen?“
„Nein, ist schon gut“, meinte er und wurde rot. Mein Herz wurde warm, als ich ihn betrachtete. Mein Sohn, und er wurde langsam erwachsen. Am liebsten würde ich ihn umarmen. „Da wäre noch was.“
„Was?“
„Na ja“, druckste er herum. „Wir dürfen ja aus Sicherheitsgründen nicht in die Stadt fahren, weil wir uns verraten könnten.“
„Ja? Das kann ich auch nicht aufheben, falls du das meinst.“ Ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich während meiner Schulzeit so gerne nach draußen wollte und nicht konnte. Heute verstand ich viel besser, warum.
„Das... das meine ich nicht. Sondern... oh Mann, das ist echt peinlich.“
Ich grinste. „Sag's einfach.“
Er atmete tief ein. „Dein Vater hat dir das doch bestimmt auch erklärt mit der Verhütung und so...“ Finn warf mir einen vielsagenden Blick zu.
„Ach so ist das. Du hast keine Kondome“, stellte ich fest, „und willst welche.“
Stöhnend vergrub er seinen Kopf in seinen Händen.
„Keine Sorge“, meinte ich, indem ich ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Diese Situation kann man ändern.“ Ich ging zu meinem Bett und holte aus einer Schublade eine Schachtel heraus. Ich würde sie wahrscheinlich sowieso nicht mehr brauchen. Zumindest nicht für die, mit der ich es mir gewünscht hätte. Wenn ich ehrlich war.
Ich stellte ihm die Packung auf den Tisch. „Aber sei bitte nicht zu voreilig.“
„Das musstest du jetzt sagen, oder?“, meinte Finn.
„Ja“, sagte ich lächelnd.
„Keine Sorge, ich bin mir sehr sicher.“
„Das freut mich, wer ist es denn? Kenne ich sie?“
„Ist das wichtig?“ Auf einmal verschloss sich seine Miene. Er ging auf Abwehrhaltung.
Zwar wollte ich ihm nicht zu nahe treten oder ihn einschränken, dennoch sagte ich: „Ja, ich würde die erste Liebe meines Sohnes gerne kennenlernen.“
Seinen inneren Kampf und sein Hadern konnte ich förmlich spüren. Schließlich nannte er mir doch einen Namen: „Anna.“
„Deine Cousine?“, fragte ich, wobei ich mein Entsetzen nicht ganz verbergen konnte. Finn schaute mir nun doch direkt in die Augen. Wut spiegelte sich darin.
„Tut mir leid“, sagte ich, „aber das ist absolut keine gute Idee. Ihr seid eine Familie.“
„Und was willst du machen?“ Nun tauchte ein dunkler Schatten der Herausforderung in seinem Blick auf. Augenblick kühlte die Atmosphäre ab.
Ich betrachtete ihn einen Moment. Es gab nur eine Entscheidung, die für alle das Beste war. „Ich muss dir verbieten, sie wiederzusehen.“
Finn lachte auf, trocken und bösartig, wie ich es nicht von ihm kannte. „Nur weil du nicht den Mut hast, ordentlich um Mira zu kämpfen, hast du nicht das Recht, mir vorzuschreiben, wen ich zu lieben habe und wen nicht.“ Damit sprang er auf, nahm sich die Kondomschachtel und verließ wutentbrannt das Zimmer. Ich konnte mich nicht rühren.
Wie hatte das passieren können? Hatte ich zu wenig aufgepasst? Das Schlimme war, dass ich es nur allzu gut verstehen konnte. Anna hatte die gleichen Locken wie Mira, nur blond, und ihre Augen und überhaupt sah sie ihr so ähnlich. Und ihre liebenswürdige Art machte sie fast unwiderstehlich. Das Allerschlimmste aber war, dass Finn es wusste. Ich hatte mich so bemüht, es geheim zu halten und hatte mich wahrscheinlich in diesem Bemühen verraten. Finn wusste, was ich für meine Schwester empfand. Ich musste mit ihm reden und das so bald wie möglich.
Ich wollte ihm nach, rief seinen Namen, obgleich er wahrscheinlich schon im Flur war, kam aber nicht weit.
Nichts war schmerzhafter, als das Gefühl, wenn Mira starb.
Meine Brust fühlte sich an, als würde sie zerreißen. Mein Kopf platzte, meine Kopfhaut atmete. Es war... beinahe unerträglich. Jeder Atemzug schmerzte. Deshalb atmete ich nicht. Mit aller Kraft schleppte ich mich zum Telefon und wählte Coles Nummer. Während ich wartete krallte ich meine Hand in das Tischbein, so fest, dass meine Nägel brachen. Doch das war nichts.
Diese Nummer ist nicht vergeben.
Verwählt. Verdammt. Neuer Versuch.
„Jace, was ist?“
Er hatte meine Nummer eingespeichert und war rangegangen. Vor Erleichterung hätte ich beinahe den Hörer fallen lassen.
„Mira... stirbt“, keuchte ich. „Cole... Du musst was tun.“
„Keine Sorge, ich werde sie finden.“ Es tutete. Dafür liebte ich Cole. Er reagierte immer schnell und immer richtig. Danke.
Ich ließ das Telefon auf den Teppich fallen und verlor das Bewusstsein.

Tränen von ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt