Heute findet hinter den Mauern die Auslese statt. Alle freuen sich und hoffen darauf erwählt zu werden. Gerade strömen sie durch die Straßen zu ihren Marktplätzen um sich die Verkündung anzuhören. Ich erinnere mich noch gut wie es bei mir damals war. Die vielen Menschen, die Bühne und das Hologramm der Frau. Die Aufregung und die Hoffnung. Es kommt mir vor als wäre das alles schon ewig her, es ist so weit weg, so unerreichbar für mich geworden.
Für mich und für uns heißt dieser besondere Tag schon lange anders. Er bestimmt zwar genauso unsere Zukunft, aber diese wird dadurch nicht besser.
Der Tag der Kontrolle.
Für uns hat er eine völlig andere Bedeutung als für die Menschen, die innerhalb der Gemeinschaft leben. Während sie sich auf diesen Tag freuen, blicken wir ihm ängstlich entgegen. Deshalb treten nur die Mutigsten den Kontrolleuren entgegen. Denn, wenn die Führer der Gemeinschaft herausfinden, was wir getan haben - wenn wir auffliegen - dann ist alles aus. Ich kann - und will - mir gar nicht vorstellen, was sie dann mit uns allen machen werden. Mit den Alten, den Jungen, den Kindern und sogar den Babys. Mit mir.
Irgendwo weit weg höre ich Kaydan meinen Namen rufen.
Es dauert etwas, bis ich aus meiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit zurückkehre und bemerke, dass Kaydan direkt hinter mir zwischen den hohen Bäumen steht.
"Jonah, was ist los mit dir?", fragt er mich.
Endlich drehe ich mich um und blicke ihm in die blauen Augen.
Er ist einer der Ältesten von uns, etwa Anfang 40. Er ist groß und stark und früher in der Gemeinschaft war er bestimmt ein Frauenschwarm.
Er ist unser Anführer.
Ich richte mich gerade auf und antworte:
"Ich bin nur... etwas aufgeregt."
Er nickt langsam und blickt mich verständnisvoll an.
"Wir müssen los. Gleich kommen sie. Denk dran: du darfst dir nichts anmerken lassen. Tu einfach das, was ich dir beigebracht habe und tu so als wäre hier alles ganz 'normal'."Nichts ist hier normal. Absolut nicht. Selbst wenn wir nicht gegen die Regeln verstoßen würden. Aber dennoch nicke ich. Es wird eine schwierige Aufgabe, aber ich habe mich gut vorbereitet.
"Sie werden fragen wer letztes Jahr alles gestorben ist. Wir müssen das glaubwürdig rüberbringen.", fährt er fort. "Cayleb, Ethan, Kenan und die anderen. Sie alle sind für die Gemeinschaft tot. Und das einzige das wir haben, ist das, was wir an unseren Körpern tragen.", erklärt er mir zum 1000. Mal.
Ich blicke an mir herab. Meine Kleidung sind nur ein paar dreckige Lumpen. Zerrissene Leinenhosen und ein löchriges T-Shirt. Von Flecken übersät. Keine Schuhe. Normalerweise tragen wir anständige Kalmotten, aber für heute muss es so sein.
"Tu am besten so, als wärst du verängstigt und müsstest hier in ständiger Angst leben, zu sterben."
Auch das hat Kaydan mir schon hundert Mal erklärt.
"Also mach dich bereit.", schließt er.Gleich geht es los, denke ich.
Zum ersten Mal habe ich diese Aufgabe zugewiesen bekommen. Der einzige von uns, der das hier schon immer gemacht hat ist Kaydan. Alle anderen sind 'tot'.
Die Kontrolleure müssten sich eigentlich wundern, wie er so lange hier überlebt hat.
Kaydan geht los und wir durchqueren den Riesenwald. Überall sind Bäume, die über 50 Meter hoch sind. Wie riesige Pilze sprießen sie aus dem Boden. Sie sind moosbewachsen und überall liegen Steine und Felsen. Die Luft riecht klar und natürlich. Nach Wald, nassen Blättern, Moos... ich liebe diesen Geruch. Tief sauge ich die Luft in meine Lungen, um mich zu beruhigen. Meine Angst verschwindet nicht ganz, aber immerhin beruhigt sich mein Herzschlag ein wenig und meine Gedanken werden klarer.
Wir treten aus dem Wald. Etwa 30 Meter vor uns ragt die Mauer auf. Sie ist das einzige, was die Bäume des Riesenwaldes überragt.
Meterdick aus Metall und Beton. Unüberwindbar.
Sie ist die Grenze zur Gemeinschaft. Unser Gefängnis und gleichzeitig unsere Freiheit. Denn hier sind wir für die Gemeinschaft unsichtbar.
Das plötzlich laute Rascheln der Blätter hoch oben in den Bäumen reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke auf. Dort ist eines der riesigen Flugschiffe der Gemeinschaft. Es schwebt hoch über uns und seine Turbinen erzeugen einen starken Wind. Blätter fliegen umher und meine zerzausten Haare fliegen mir ins Gesicht.
Sie kommen um uns zu kontrollieren.
Das Flugobjekt sinkt langsam ab und es dröhnt in meinen Ohren.
Meine Haare und auch die von Kaydan und den anderen dreien, die sich mittlerweile neben uns auf der kleinen Lichtung rund um die Mauer eingefunden haben, fliegen durch die Luft von dem gewaltigen Luftausstoß des Schiffes. Auch unsere Klamotten werden von dem Wind erfasst.
Dieser brennt in meinen Augen, aber ich zwinge mich, sie offen zu halten.
Immer tiefer sinkt das Flugschiff, bis es schließlich weich auf dem grasbedeckten Boden aufsetzt. Das ohrenbeteubende Brummen verstummt und der Wind legt sich.
Mit einem leisen Zischen öffnet sich die Luke an der Seite des Gefährts und eine Rampe fährt herunter.
Wir treten einen Schritt zurück und beobachten, wie drei Männer im Anzug der Kontrolleure aus der Tür heraustreten. Sie alle sind bewaffnet und zeigen mit ihren Gewehren auf uns. Als sie ein paar Meter weit auf die Rampe getreten sind, kommt hinter ihnen ein Mann in rotem Anzug zum Vorschein. In diesem Moment wird mir klar, dass er derjenige ist, der uns kontrolliert. Die normalen Kontrolleure schützen ihn nur.
Er ist ein Zentrumskontrolöeur. Einer von ganz oben.Anders als die anderen drei trägt er keinen Helm, sodass ich sein Gesicht erkennen kann.
Er ist das geborene Schönheitsideal der Gemeimschaft. Lange Blonde Haare. Strahlend blaue Augen. Hohe Wangenknochen.
Hoch erhobenen Hauptes schreitet er von seinen Leibwachen flankiert die Rampe hinunter.
Als er unten angekommen ist, geht er noch einige Schritte weiter und bleibt schließlich direkt vor Kaydan stehen, der unterwürfig den Kopf neigt.
Der Leader überragt Kaydan nun um fast zwei Köpfe.
"Seid ihr alle?", beginnt der Leader ohne Umschweife mit seiner tiefen Stimme.
"Ja, Sir.", erwidert Kaydan. Diese Lüge versteckt er sehr gut. Er zuckt nicht mit der Wimper und auch sonst gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Kaydan gerade nicht die Wahrheit gesagt hat. Ich frage mich wie oft er schon diese falsche Antwort auf diese Frage gegeben hat.
Es sieht so aus, als hätte der oberste Kontrolleur diese Lüge geschluckt, denn er fährt mit seiner Befragung fort.
"Du da!", er zeigt mit seinem rot behandschuhten Finger auf mich.
Mein Herz setzt einen Schlag aus.
Doch schnell hat sich mein Gehirn wieder in Gang gesetzt und ich antworte mit den Worten, die mir Kaydan immer und immer wieder eingebläut hat:
"Ja, Sir!"
Ich trete einen Schritt nach vorne, auf den Zentrumskontrolleur zu.
"Wer ist in diesem Jahr alles gestorben?!", frägt er mich.
Kaydan hatte mich vor dieser Frage gewarnt. Wenn ich auch nur einen falschen Namen, oder einen zu wenig nenne, wird der Leader das merken und wir sind aufgeflogen.
Insgeheim habe ich immer gehofft, dass der oberste Kontrolleur nicht mir diese Frage stellen würde. Aber genau das hat er gerade getan. Also setzte ich an und zähle die Namen all derer auf, die letztes Jahr gestorben sein müssen, damit nur noch wir fünf übrig sind.
Es sind viel zu viele. Alle die, die über die Jahre hierher verbannt worden sind. Einige waren erst ein paar Tage oder Wochen hier, als sie schon ihr Leben lassen mussten.
Zumindest soll es für die Gemeinschaft so aussehen. Denn in Wirklichkeit sind all diese Menschen noch am Leben. Und wenn alles gut geht, wird der Kontrolleur - und damit die Gemeinschaft - nie davon erfahren.
Ich zähle die Namen auf, einen nach dem anderen. Immer mehr und mehr. Erst fünf, dann zehn, dann fünfzehn.
So viele Menschen, denke ich.
Nach dem 23. Namen ist endlich Schluss.
Bitte, hoffe ich, bitte lass mich niemanden vergessen haben.
Ich versuche nach außen hin gelassen zu wirken. Die Kontrolleure sollen mir meine Aufregung nicht anmerken.
Der Zentrumskontrolleur schweigt, als würde er versuchen herauszuginden, ob ich gerade die Wahrheit gesagt habe.
Am liebsten würde ich zu Kaydan sehen, der nun hinter mir steht, um mich zu vergewissern, dass mir kein Fehler unterlaufen ist.
In diesem Moment höre ich hinter der Mauer einen ohrenbetäubenden Knall. Rauchwolken steigen auf und färben den sonst so gleichmäßig hellblauen, Wolkenlosen Himmel grau. Obwohl es weit weg ist, kann man die Druckwelle hier immer noch spüren.
Innerlich mache ich einen Freudensprung.
Wir haben es geschafft.
Der erste Schlag gegen die Gesellschaft ist uns geglückt.
Die Rebellion beginnt.
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Oblivion [PAUSIERT]
Science FictionSie haben mir alles genommen. Meine Heimat. Meine Familie. Meine Freunde. Meine Erinnerungen. Sie haben mich zu der Gemacht, die ich für sie sein sollte.