Prolog

4.3K 138 72
                                    


Flackerndes Licht blendet mich. Die Geräusche um mich herum sind irgendwie gedämpft und mein Körper scheint mir nicht richtig gehorchen zu wollen. „Ein Arzt. Wir brauchen sofort einen Arzt!", ertönt die schrille Stimme meiner Mutter neben mir. Mir ist kalt – unglaublich kalt und das Zittern schmerzt schon fast. Leute greifen nach mir. Etwas Kaltes berührt meine rechte Seite.

Merken die denn nicht, dass ich hier erfriere?

Kräftige Hände packen mich und dann durchzuckt mich ein stechender widerlicher Schmerz zwischen meinen Beinen. Ich will um mich schlagen, doch meine Arme werden fixiert, während meine Mutter auf mich einzureden scheint, doch ihre Worte ergeben keinen rechten Sinn. Ein weiterer kurzer Schmerz im rechten Arm und ich merke, wie eine kalte Flüssigkeit in meine Vene läuft.

Was tun die mit mir?

Dann... verschwimmt alles um mich herum.

Zwei Tage später

Hustend versuche ich mich aufzusetzen und werde gleich von meiner Mutter sanft zurück in die Kissen gedrückt. „Oh Gott, June. Wir hatten solche Angst um Dich! Endlich bist Du wach.", flüstert sie und ich sehe dunkle Schatten unter ihren sonst perfekt geschminkten Augen. „Was... ist passiert?", frage ich mit trockener Kehle. Es kommt mir vor, als hätte ich seit Wochen nichts mehr getrunken.

„Hier, nimm einen Schluck Wasser, Kind." Mum hält mir einen Strohhalm an den Mund und gierig sauge ich die Flüssigkeit ein. „Deine Niere – Du hast eine verschleppte Nierenbeckenentzündung und die gipfelte in einen Nierenstau. Herrje June, warum zu Kuckuck hast Du nichts gesagt! Du hättest sterben können, Du unvernünftiges Kind.", belehrt mich meine Mutter mit zitternder Stimme.

„Wie... was meinst Du damit?", frage ich irritiert. Sie schüttelt mit dem Kopf: „Dein Vater hat Dich bewusstlos im Badezimmer gefunden. Wenn er Dich nicht sofort ins Krankenhaus gebracht hätte... Verdammt June, warum bist Du nur so starrköpfig." Ihre Augen verschwimmen und sie schluchzt auf. „Sie haben zum Glück einen Katheder gesetzt und damit konnte der Nierenstau gelöst werden. Sie... wollten Dich operieren... Es hätte Dein Ende sein können! Himmel, Kind, warum hast Du nur nichts gesagt. Die Ärzte sagten, Du müsstest höllische Schmerzen gehabt haben."

Es sollte das letzte Mal sein, dass ich meiner Mutter so nah war.

6 Monate später

Kämpfen – niemals aufgeben. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Und von meinem Trainer. Über die Schmerzgrenze hinaus weiter zu machen und durch pure Willenskraft den Körper über sein Limit bringen. Ja, das kann ich, darin bin ich wirklich gut.

Durch die Nierenerkrankung ist meine rechte Niere nur noch zu 20% leistungsfähig. Aber das macht nichts. Nur ein Souvenir meines Selbstzerstörungsdrangs. Man kann auch nur mit einer Niere leben. Und ich habe mich zurück gekämpft.

Mein Leidensweg hat mich ins Krankenhaus gebracht – nur weil meine Eltern beschlossen haben, eine Schlammschlacht aus ihrer Ehe zu machen und ich in dem Chaos den Boden unter den Füßen verloren habe. Ich habe geweint, geschrien, gezetert, geschwiegen; nichts hat etwas geändert. Meine Verzweiflung schlug in Destruktivität um, die sich gegen mich selbst richtete.

Ich aß kaum noch und als ich dann die verschleppte Blasenentzündung körperlich zu spüren begann, war es wie ein willkommener Triumph über meine selbstsüchtigen Eltern. Alles war mir egal. Der Schmerz war zu minderst etwas, dass ich spürte, denn alle Empfindungen waren betäubt durch die Trauer und Wut über den Verlust meiner ehemals perfekten Familie.

Mich traf die Erkenntnis wie ein Schlag: ich konnte meine Eltern nicht von etwas überzeugen; ich konnte mich nur selbst schützen, indem ich derlei Chaos und Verletzungen nicht mehr an mich heran ließ. Meine Mauern wurden höher und dicker im Laufe der Jahre und ich wurde Experte im Aufbau einer glänzenden Fassade. Unerbittlich nahm ich den Kampf gegen die Gefühle auf und brachte einen passablen Schutzwall zustande.

5 Jahre später

Zuversicht. Er war der Junge unserer Nachbarn und drei Jahre älter als ich. An meinem 19. Geburtstag hat er mich in unserer Laube geküsst. Mein Dad war zwar nicht begeistert, kapitulierte aber nach einem Monat. Die sexuellen Erfahrungen waren aufregend und ich war eine wissbegierige Schülerin. Ein Jahr lang hatte ich das Gefühl, dass es tatsächlich zwischen zwei Menschen Vertrauen geben kann.

Der Anruf meiner Freundin haute mich komplett um. Verheult und aufgelöst versuchte sie mir zu erklären, dass es nicht geplant gewesen sei und er sich schäme, es mir direkt ins Gesicht zu sagen. Doch sie könne mit ihrem Fehler nicht so weiter machen.

Ich schloss mich drei Tage in meinem Zimmer ein und heulte mir die Seele aus dem Leib. Der Kämpfer in mir erwachte am vierten Tag zum Leben und zog mich aus dem Sumpf meiner Trauer. Die kommenden Wochen schottete ich mich von meinen Freunden ab und löschte seine und ihre Nummer aus meinen Telefonlisten. Bei meinem täglichen Fitnessprogramm kanalisierte ich meinen Frust sowie meinen verletzten Stolz und es ging mir langsam besser.

Die Welt hatte mich wieder.

Zwei Jahre später

Eine zweite Chance. Wir waren glücklich; die erste Zeit war stürmisch und wir kamen kaum aus dem Bett. Er gab mir das Gefühl, es wäre für ewig und ich glaubte es ihm nur zu gerne. Die Sehnsucht nach einem Menschen an meiner Seite war stärker, als die blinkenden Warnschilder in meinem rationalen Verstand.

Im zweiten Jahr unserer Beziehung musste er öfter auf Reisen und ich konzentrierte mich auf mein Studium, wenn ich nicht bei Dad in der Firma mitarbeitete. Wir wollten uns eine gemeinsame Wohnung suchen. Eines Abends; er war unter der Dusche; erhielt er eine SMS. In letzter Zeit ging er zum Telefonieren auf die Terrasse. Sein Telefon packte er seit neuestem immer in seine Tasche. Er sagte, es wäre nichts. Nur eine Angewohnheit.

Nun lag es wie ein Geschenk auf der Anrichte in der Küche. Ich konnte nicht widerstehen.

„Die letzte Nacht war unglaublich. Du warst unersättlich, wie immer . Kann es kaum erwarten Dich wieder unter mir zu haben! Kiss Megan."

Stumm mit brennendem Herzen betrachtete ich die Nachricht und traf dort eine Entscheidung. Ich packte meine Sachen zusammen und verließ sein Apartment ohne ihn damit zu konfrontieren. Es folgten unzählige Anrufe, E-Mails und verzweifelte Besuchsversuche bei meinem Vater, doch ich ignorierte sie alle.

Dies war der Zeitpunkt, an dem mein Selbsterhaltungstrieb mit aller Macht die Oberhand über die zerbrechliche und emotionale June Martin übernahm. Er umfing mich wie eine warme Decke und legte sich schützend über meine vernarbte Seele. An diesem Morgen erwachte als eine neue June Martin – stark, unabhängig und kalt wie Stein.

Nie wieder würde mich jemand so demütigen, verwunden, niederstrecken und zertreten. Ich würde mir zukünftig alles nehmen, was ich wollte, ohne Rücksicht auf Verluste.


Beyond Redemption (Bd. 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt