Kapitel 10 - Der Geisterwolf von Ectophe

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Allein überschreitet Xenos die Dorfgrenze von Ectophe. Seine Gedanken sind noch immer beim Treffen mit dem Propheten. Ihm fallen in Nachhinein so viele Fragen ein, die er gern gestellt hätte. In der Ferne erblickt der Junge das Schild der Herberge Ectophes. Wie auch die anderen Häuser ist es größtenteils im vorkaiserlichen Stil gehalten. Das kleine Dorf existiert bereits seit Jahrhunderten. Die Häuser haben dünne Holzwände, die mit Stoff oder Papier bespannt sind. Alle liegen auf einem terrassenähnlichen Fundament.
        Das blasse Mondlicht scheint auf die staubigen, leeren Straßen. Das Dorf ist wie ausgestorben. Dabei ist die Nacht doch gerade erst angebrochen. Xenos ist verwundert. Gerade als er in die alte Herberge eintreten will, vernimmt er das laute, markerschütternde Heulen eines Wolfes. Es hört sich weit entfernt an. Vermutlich kommt es aus den naheliegenden Bergen.
        Der Junge betritt die Herberge und schließt die Tür hinter sich. Als er sich wieder umdreht, sieht er eine ältere Frau vorsichtig hinter dem Tresen hervorschauen. Zuerst schaut sie verängstigt, dann erschrocken und schließlich verblüfft.
        Sie steht auf: „Ein Junge? Was tust du denn hier? Bist du allein?"
        Xenos entgegnet verwirrt: „Ja, ich bin allein. Ich komme aus Menotown und würde gern ein Zimmer für die Nacht mieten."
        „Menotown? Von dem Ort habe ich noch nie gehört. Du musst von ziemlich weit her kommen, wenn du noch freiwillig durch unser Dorf reist. Weiß du, seit ein paar Woche sucht ein..."
        Plötzlich pfeift ein eisiger Windzug durch das Haus. Die Kerzen, die dem Haus ihr Licht spenden, erlischen. Es wird dunkel. Nur das fahle Mondlicht fällt noch in den Raum. Dann erklingt wieder das Wolfsgeheul. Es ist viel näher als eben.
        „Schnell Junge, versteck dich!", flüstert die Frau und verschwindet wieder hinter dem Tresen.
        Ein gleißendes Licht erhellt die Straßen. Man spürt Getrampel, welches immer stärker wird. Xenos lässt sich unter eines der Fenster fallen, während er vorsichtig hoch nach draußen schaut. Immer intensiver wird das Beben, ausgelöst durch das heftige Trampeln. Es kommt stetig näher. Plötzlich zieht eine riesige, hundeähnliche Gestalt vorüber. Sie besitzt die unglaubliche Größe eines kleinen Hauses. Soetwas gibt es nicht.
        „D-der Geist. – Seit Wochen sucht uns dieser Geist heim", stammelt die Frau leise.
        Plötzlich hört man berstendes Holz, gefolgt von Schreien, markerschütternde Schreie um Leben.
        „Alle paar Nächte kommt dieser Geisterwolf und nimmt jemanden aus dem Dorf mit. Bevorzugt Kinder und Frauen", erzählt die Frau. „Es ist schrecklich."
        Draußen sind weiterhin die nicht enden wollenden, furchtbaren Schreie zu vernehmen. Nun kann Xenos die Bestie sehen. In den Trümmern eines Hauses steht er, ein haushoher, halb durchsichtiger Wolf. Sein Schweif wedelt mit jedem Schwung Unmengen Staub vom Boden auf. In seinem gewaltigen Maul steckt eine Frau. Sie bewegt sich immer weniger. Schließlich verstummen die Schreie und keine Regung ist mehr zu sehen.
        Xenos springt auf und rennt aus dem Haus: „Kommt, meine Diener!"
        Der Junge beißt sich in den Daumen. Blut tropft auf den Boden. Ein Sigill zeichnet sich, aus welchem drei Geisterfüchse hervorspringen. Ohne Furcht rennen sie auf den gigantischen Wolf zu. Dieser dreht sich zu Xenos und seinen Dienern. Zwischen seinen Zähnen liegt noch immer die regungslose Frau. Die drei Füchse springen auf den Wolf zu, doch in diesem Moment verschwindet er und nimmt die Frau mit sich. Mitsamt der Frau hat er sich förmlich aufgelöst.
        Die Kerzen in den Häusern flammen neu auf. Das kühle Mondlicht scheint auf Xenos, welcher starr bei seinem Sigill steht. Von seinem Daumen tropft noch immer Blut auf den Boden. Die Füchse kehren zum ihm zurück und verschwinden in der Blutzeichnung. Das Sigill löst sich auf. Einige der Dorfbewohner schauen aus ihren Verstecken. Vorsichtig und voller Furcht kommen sie auf die Straße und nähern sich dem Jungen.
        Auch die alte Frau kommt auf ihn zu: „Du bist ein Beschwörer? Das war wirklich mutig von dir, Kind."
        „Ich bin ein Magier", erwidert Xenos.
        „Für dein Alter bist du sehr begabt", antwortet die Frau mit einem respektvollen Blick. „Nun husch, husch Leute! Zurück in eure Häuser. Das war wohl genug Aufregung für heute."
        Xenos schaut sie verwundert an: „Das war es? Ihr macht nun einfach so weiter als wäre nichts gewesen?"
        „Was sollen wir denn machen?", fragt ihn die Frau. „Wir sind dieser Kreatur ausgeliefert. In Juselia haben wir bereits um Hilfe gebeten, doch auch dort war niemand, der uns helfen konnte. Einige haben das Dorf bereits verlassen. Aber für viele von uns geht das nicht. Wo sollen wir hin? Wir sind auf unser Land angewiesen."
        Nachdenklich begibt sich Xenos in die Herberge. Dort setzt er sich an einen Tisch in einer Ecke des Raumes. Er schaut aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Kurze Zeit später bringt ihm die alte Dame eine einfache Mahlzeit an den Tisch.
        „Das übernehme ich. Ich möchte mich bei dir für deinen Mut bedanken. Du hast dich dem Geisterwolf versucht in die Quere zu stellen. Von uns hätte sich das niemand gewagt."
        Mit einem leisen Stöhnen setzt sie sich zu ihm. Es ist still. Xenos schaut auf das warme Essen, welches ihm die alte Dame zum Dank gebracht hat.
        Leise murmelt er: „Die Frau konnte er dennoch mit sich nehmen."
        „Ja, das stimmt. Ohne dein Eingreifen wäre es aber auch geschehen. Niemand hat von dir erwartet, dass du sie rettest."
        „Sie hat sicher noch gelebt. Der Geist hat nicht zugebissen. Wisst Ihr, wo er die entführten Personen hinbringt?", fragt Xenos.
        „Nein, tut mir leid", schüttelt die Dame den Kopf. „Genau wissen wir es nicht. Wir vermuten aber, dass er sie in die Berge bringt."
        „Das hilft mir schon. Vielen Dank", fasst Xenos neue Motivation.
        Der Nekromant beginnt zufrieden zu essen. Er wird diesen Geist jagen. Einen Plan hat er bereits. Und nun auch eine Spur.
        „Moment!", schreckt die Frau entsetzt auf. „Du willst ihn doch wohl nicht wirklich suchen gehen?"
        Xenos schluckt hinunter: „Doch, ich werde ihn sogar besiegen. Ihr sagtet doch selbst, ich sei sehr begabt."
        Aufgebracht stützt sich die alte Frau auf den Tisch: „Was? Das ist Selbstmord, Junge!"
        Der Schwarzhaarige wischt sich mit der beiliegenden Serviette den Mund ab und steht auf: „Vielen Dank für das leckere Mahl. Vertraut mir. Man muss nicht auf mich achten. Ich bin bereits den weiten Weg hierher allein gekommen. Aber nun würde ich gerne auf mein Zimmer gehen."
        Auch wenn sie Xenos noch immer nicht für stark genug hält, nickt die Dame. Es ist bereits spät. Wie der Junge gebeten hatte, geleitet sie ihn zu einem der Zimmer, wo er sich schlafen legen kann.

Buch 1: Atra-Regnum - Das dunkle KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt