Kapitel 15 - Die Sammlung der Spinne

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Gegen Mitternacht erreicht Xenos das Dorf Ira. Einige der Häuser sehen verlassen aus. Alle von ihnen haben ihre besten Tage schon hinter sich. Man scheint sich nicht sonderlich stark um diese Siedlung zu kümmern. Aus wenigen Häusern dringt noch ein schwacher Kerzenschein. Auf der Suche nach dem hiesigen Gasthaus begegnet Xenos nur zwei ärmlich gekleideten Menschen. Als sich ihre Wege kreuzen, schauen sie starr zu Boden, so als ob sie den fremden Jungen in ihrem Dorf gar nicht sehen wollen. Dies ist Xenos, welcher schon ziemlich müde ist, allerdings ganz recht. Er erweckt nicht gern die Aufmerksamkeit anderer. In einem der Häuser, in denen noch Licht brennt, erkennt Xenos kurz die Silhouette einer Frau. Als sie jedoch bemerkt, dass sie gesehen wurde, zieht sie blitzschnell die Vorhänge zu und verschwindet.
        Lange braucht Xenos das Gasthaus nicht zu suchen. Es scheint das einzige halbwegs intakte Gebäude in diesem Dorf zu sein. Das erste, was ihm auffällt, als er das Haus betritt, ist der für ihn unangenehme Geruch von Alkohol. In diesem Moment sehnt sich der Junge nur noch zurück in die Herberge in Anchor, von welcher er am Morgen aufgebrochen war. Auf einem Barhocker am Tresen schläft ein alter, dürrer Mann mit einer Halbglatze, verfilztem Bart und dreckiger Kleidung. Viel sauberer sieht Xenos' Kleidung im Moment jedoch auch nicht mehr aus. Ein dicker Mann hinter dem Tresen poliert Glaskrüge. Er schaut den Jungen an.
        Mit einer tiefen, spöttischen Stimme spricht er: „Ab nach Hause! Du hast hier nichts zu suchen, Knirps. Alkohol gibt es nur für Erwachsene."
        „Ich suche nur einen Schlafplatz", antwortet Xenos.
        „Ach, so ist das", lacht der Wirt laut über ihn. „Haben Mami und Papi dich etwa rausgeworfen, weil du unartig warst?"
        Xenos legt den Kopf schief: „Ich kann auch zahlen."
        Die Stimme des Mannes hebt sich und wird freundlicher: „Ach wirklich? Wieviel kannst du denn zahlen?"
        „Wieviel kostet es denn?"
        Der Mann zögert und nennt dann einen übertrieben hohen Preis für solch eine heruntergekommene Herberge.
        „So viel Geld habe ich nun auch wieder nicht", lügt Xenos.
        Er hat sofort bemerkt, dass der Wirt versucht, ihm möglichst viel Geld zu entlocken. Der Mann nennt einen geringeren Preis, welcher dennoch ungerechtfertigt erscheint. Xenos nimmt ihn jedoch an. Er will nur noch schlafen gehen. Der Junge bezahlt den Betrag und der Wirt bringt ihn auf sein Zimmer. Dieses sieht genauso aus wie der Rest des Hauses. Es riecht muffig und dreckig ist es auch. Doch diesen Aspekt ignoriert Xenos. Wohl fühlt er sich hier nicht. Für den Rest der Nacht wird es allerdings reichen. Schnell zieht sich der Junge sein Nachthemd an und legt sich ins Bett. Es dauert nicht lange, bis er die Umgebung vollständig ausgeblendet hat und einschläft.


Zur gleichen Zeit betreten ein Dunkelelf und zwei Menschen das Gasthaus und setzen sich zu dem schlafenden Mann an den Tresen. Sie heben sich nicht sonderlich von den anderen Menschen hier in Ira ab. Jedoch stammen sie zweifelsfrei nicht aus dem Dorf. Der Wirt kommt zurück und bemerkt die neuen Gäste.
        Schnell kehrt er hinter den Tresen zurück: „Guten Abend, was kann ich euch heute bringen?"
        „Ist er da?", fragt der Dunkelelf selbstverständlich.
        „Wer?", erwidert der Wirt.
        „Du weißt doch, der Fremde, der herkommen wird, von dem ich seit Tagen erzähle."
        „Ach, den meinst du." Der Wirt schiebt ihnen ein kleines Glas Schnaps zu: „Geht auf's Haus. Euer Fremder ist allerdings immer noch nicht hier. Der Einzige, der heute kam, war ein kleiner Knirps. Er konnte sogar zahlen, also gab ich ihm ein Zimmer."
        Der mysteriöse Dunkelelf senkt sein Glas wieder ab: „Das muss er sein! Schwarzes Haar, blaue Augen, dunkle Kleidung, klein gewachsen?"
        „Ja, genau", nickt der Schankwirt. „Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du ihn meintest? Du hast von einem gefährlichen Fremden berichtet."
        „Das ist er!", meint der Dunkelelf sicher.
        Der Wirt muss lachen. Der Elf jedoch bleibt ernst.
        „Bring uns zu ihm", meint er.
        „Nur zu, mir soll es egal sein", zuckt der Wirt mit den Schultern und deutet auf eine Tür, die nach hinten führt.
        Die Drei folgen der Tür in einen dunklen Gang mit weiteren Türen auf jeder Seite. Leise öffnen sie jede Tür und schauen, welches das Zimmer des vermeintlich gefährlichen Fremden ist. Schließlich finden sie Xenos. Er schläft ruhig in seinem Bett. Mit einem breiten Grinsen öffnet der Dunkelelf die Tür komplett und betritt den Raum. Seine beiden Gefährten folgen ihm. Sie stehen direkt vor dem Schlafenden, als der Elf seine Stimme erhebt.
        Mit einer tiefbösen Stimme flüstert er: „So sieht man sich also wieder, kleines verzogenes Gör. Damals in Juselia schlug unser erster Versuch fehl. Doch nun liegst du wehrlos vor uns. Bist wehrlos in diesem dir feindseelig gesinnten Dorf. Ich weiß genau, wer du bist, auch wenn ich deinen Namen nicht kenne."
        Er senkt seinen Kopf näher in Richtung des Gesichtes des Kindes: „Du wirst hier sterben. Kurz vor deinem Ziel."
        In diesem Moment öffnet Xenos seine Augen und blickt direkt in die tiefrot glühenden Augen des Eindringlings. Der Elf schreckt zurück. Xenos rollt sich nach hinten aus dem Bett.
        „Spiritus Dagger!"
        Ein Dolch erscheint in der Hand des Jungen.
        „Wir gehen", ruft der Dunkelelf seinem Gefolge zu.
        So schnell, wie sie gekommen sind, verschwinden sie auch wieder. Nur eines fällt Xenos sofort auf. Alle drei haben blutrote Augen. Böse Augen. Der Junge braucht einen Moment, um alles zu realisieren, was gerade vorgefallen ist. Schließlich entfacht er wieder Licht in seinem Zimmer. Liebendgern würde er weiterschlafen, aber er kann nicht. Nicht nach dem, was gerade gewesen ist. Er kleidet sich wieder an und beschließt nach dem Wirt zu sehen.
        Als Xenos wieder in das Lokal kommt, steht der Wirt nach wie vor hinter dem Tresen und poliert seine Gläser. Der alte Mann, welcher vorhin schlief, ist nun auch wach und wankt leicht auf seinem Hocker hin und her. Schließlich erblicken die Beiden den schwarzhaarigen Jungen. Gerade als der Wirt etwas sagen will, erhebt sich der betrunkene Mann.
        Sofort schreit er los: „Da is' er! D-da is' er, der Kleene! Na, wart's nur ab, K-kleener, du wirst u-unser Dorf ni'mmals bekomm'!"
        Er beginnt auf den Jungen zuzurennen. Xenos weicht zurück und der Betrunkene zieht an ihm vorbei. In diesem Moment blickt er dem Mann direkt in die Augen. Sie sind ebenfalls rot. Der Betrunkene gerät aus dem Gleichgewicht und kracht in ein paar Stühle.
        Der Wirt schaut sichtlich unbeeindruck in eines seiner Gläser: „Wärst du nicht einer der Kunden, die hier das meiste Geld ausgeben, hätte ich dich schon längst herausgeworfen, Ecoji."
        Xenos begibt sich an den Tresen und konfrontiert den Wirt: „Warum konnten drei Männer einfach so in mein Zimmer kommen?"
        Dieser beginnt nur kurz zu grinsen: „Ich weiß nicht."
        Der Nekromant wirft ihm einen bösen Blick zu und schaut ihm ebenfalls kurz in die Augen. Sie sind grün. Er wendet sich ab und verlässt die Herberge.
        Als Xenos die Tür hinter sich schließt, atmet er erst einmal tief durch. Die Luft hier draußen riecht zwar auch nicht sonderlich angenehm, jedoch besser als der starke Alkoholgeruch im Inneren des Gasthauses. Schließlich begibt sich der sichtlich müde Xenos auf den Weg, das Dorf ein wenig zu erkunden. Er hat die Hoffnung, sein Pferd hier irgendwo wiederzutreffen. Ohne dieses wird er für das letzte Stück Weg bis in die Kaiserstadt noch einmal viel länger benötigen. Außerdem will sich der Junge wachhalten. Die unerwartete Konfrontation mit dem scheinbar bösen Dunkelelfen in vermeintlich sicherer Umgebung hat ihn vorsichtig werden lassen.

Buch 1: Atra-Regnum - Das dunkle KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt