4| Lass mich in Ruhe

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Mitten im Jahr auf eine neue Schule zu wechseln ist mit das schlimmste, was einem passieren kann. Vor allem in meinem Alter.

Jeder um dich herum kannte sich schon seit dem Kindergarten, alle schienen irgendwohin zu gehören und dann kommst du und weißt nicht, was du machen sollst. Du kannst nicht einfach auf eine Gruppe zu gehen und sagen, du gehörst jetzt dazu.

An meinem ersten Tag an der Forest High konnte ich mich kaum erinnern, alles war verschwommen und unklar. So wie ich mich die Wochen davor auch gefühlt hatte. Wenn ein Familienangehöriger starb, bekam man nur wenige Tage frei. Es waren genug Tage, um sich die Seele aus dem Leib zu heulen, aber noch lange nicht genug, um mit der Situation klar zukommen.

Ich bekam nichts in der Schule mit, alles zog an mir vorbei. Die Blicke der anderen und die Art, wie sie mir aus dem Weg gingen, machte es mir nicht leichter, die Tränen runter zuschlucken. Sie sahen mir hinterher, traten auf die Seite und flüsterten über mich. Ich war das Mädchen, dass ihre Eltern verloren hatte und selbst meine Freunde waren mit mir überfordert.

Einzig Ella blieb mir und als sie beschloss, dass es für mich besser wäre, wenn wir zu ihr ziehen würden, nahm ich es hin. Es war schwer, meine Sachen zu packen und das Haus, in dem ich aufgewachsen war, hinter mir zu lassen. Aber die Erinnerungen, die an jeder Ecke lauerten, gaben mir den Ansporn. Es tat weh, sie überall zu sehen und es tat weh, dort zu sein, wo sie eigentlich sein sollten. Alleine zu sein.

Ella hatte die Hoffnung, in der neuen Schule würde ich mich besser fühlen und neue Freunde finden. Dem Unterricht wieder folgen und so sein, wie zuvor. Sie wusste, es würde nie wieder so sein wie vorher, aber sie hoffte.

Aber auf der Forest High verfolgten mich die Blicke wieder, sie gingen mir aus dem Weg und flüsterten über mich. Diesmal nicht, weil ich die Waise war, sondern weil ich die Neue war. Sie wussten nichts von mir, ich sprach nicht mit ihnen. Es gab einige, die versuchten eine Verbindung mit mir anzufangen, ein Gespräch, aber letztendlich verscheuchte sie mein Schweigen und ich war wieder alleine.

Im Gegensatz zu meiner alten Schule war es mir egal, wie ich aussah. Ich gab mir keine Mühe mit meinem Aussehen und wurde schnell als verrückt abgestempelt. Mein Starren, mein Schweigen, meine Tollpatschigkeit - alles führte dazu, dass sie mich flüsternd verrückt nannten.

Die kommenden Tage zogen sich, die Zeit schien viel langsamer zu vergehen und das Gerede über mich wurde von Tag zu Tag schlimmer. Ich war die Neue, die öfter beim Direktor war, als je ein anderer, die Justin Woodley geschlagen und beim Direktor quasi verpetzt hat. Und seit gestern war ich die Verrückte, die sich im Kreis dreht wie ein Hund, der nach seinem Schwanz schnappt und nach etwas Ausschau hielt.

Seit dem ich mit Ella im Center war, sah ich an jeder Ecke etwas glitzerndes. Ich wusste nicht, was es war oder sogar warum ich es sah und die anderen anscheinend nicht. Sie hielten mich für verrückt und mir war es egal, denn ich wusste, ich bildete es mir nicht ein. Es schien mich zu verfolgen, sich über mich lustig zu machen und wenn ich versuchte es einzuholen, verschwand es plötzlich und die Blicke der anderen ließen mich nervös werden. War ich vielleicht doch verrückt geworden?

»Was machst du da?«, fragte Jess, die plötzlich hinter mir stand. Erschrocken drehte ich mich um und sah sie an. Ihre Augenbrauen waren nach oben gewandert und ihre Arme hatte sie vor ihrer Brust verschränkt. Das angekippte Fenster des Treppenhauses wehte kühle Luft in meinen Nacken, während ich sie einen Moment schweigend ansah.
»Nichts«, sagte ich und trat vom Fenster weg. »Alles gut.«

Ich schlängelte mich an ihr vorbei und machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Kurs, den ich am anderen Ende des Gebäudes hatte.
»Hey, warte!«, rief sie mir hinter her , während sie mir nach rannte. Ihre Schritte gingen zwischen den der anderen unter und ihre Stimme war nur schwach zu hören. Ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört und ging unberührt weiter. Doch Jessica hatte sich schon die letzten Tage nicht von meiner Art bekümmern lassen. Zu meinem Leidwesen fühlte sie sich wahrscheinlich von Justins Worten ermutigt und wollte nur noch dringender etwas mit mir zu tun haben, damit sie ihn ärgern konnte. »Wohin gehst du?«
»Zu Geschichte«, antwortete ich ohne sie anzusehen. Ihren Blick konnte ich auf meinem Gesicht spüren, dennoch drehte ich meinen Kopf nicht. Ich hatte nicht um ihre Freundlichkeit gebeten, also konnte sie mich auch in Ruhe lassen. »Musst du nicht woandershin?«

WolfheartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt