6| Treppenhaus

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»Ms. Adkins, können Sie mir sagen, welcher Fluss das ist?«
Erschrocken fuhr mein Kopf hoch. Mr. Smith war mir in den letzten Tagen mehrmals ungestimmt gewesen, da ich oftmals mit meinen Gedanken woanders war als in seinem Klassenzimmer. Es war nicht das erste Mal, dass er mir eine solche Frage stellte, in der Hoffnung, ich wüsste keine Antwort. Doch Dad hatte mir schon als ich klein war viel über die Geographie und die grundliegenden Infos in diesem Bereich erzählt und hatte immer darauf bestanden, dass ich die wichtigsten Flüsse und Städte, sowie Gebirge und Seen in jedem Land kannte.

»Das ist der Mississippi, ein etwas größerer Spross des Lake Itsaca im Norden Minnesotas. Er verläuft ungefähr 3778 Kilometer nach New Orleans und mündet circa 160 Kilometer südlich von dort im Golf von Mexiko.«
Sprachlos sah er mich an. Ich schluckte und spürte die Blicke der anderen auf mir. Wahrscheinlich hätte es auch nur gereicht, wenn ich gesagt hätte, dass es der Mississippi ist.

»Das ist korrekt. Trotzdessen würde ich Sie bitten, meinem Unterricht zu folgen und nicht irgendwelche Striche auf Ihrem Blatt zu zeichnen.«
»Ja Sir, es wird nicht wieder vorkommen«, sagte ich und neigte meinen Kopf. Meine Augen fixierten sich auf die wenigen Worte, die ich aufgeschrieben hatte und dann wieder nach vorne. Mr. Smith' strenge Augen sahen mich einen Augenblick länger an, bis er sich wieder der gesamten Klasse zuwand.

»Wie Ms. Adkins schon erwähnte, ist dies der Mississippi. Hier in New Orleans-« Er zeigte mit einem dünnen Stock auf die untere Hälfte der Karte. »-bildet er eines der größten Mündungsgebiete weltweit. Zusammen mit einem seiner Nebenflüsse, der Missouri, bilden er das viertlängste Flusssystem der Erde. Es wäre schön, wenn Sie sich das aufschreiben würden.« 
Die bis eben noch regungslose Klasse kam in Bewegung und jeder einzelne begann in seinem Block zu schreiben. Ich trommelte leise auf die Tischplatte und warf einen Blick auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten.

Die Forest High war nicht anders als meine alte Schule, die selben langweiligen Fächer, strenge und gestresste Lehrer und die Schüler waren auch alle gleich. Es gab zwar keine komischen Gruppen wie in den albernen Highschool Filmen, aber eine Spaltung war schon zu erkennen. Während die Sportler und Schönen von allen mit bewundernden Blicken betrachtet wurden, waren unter ihnen nur selten schlaue Teenager vertreten. Vorallem während der Mittagspause konnte ich mich von meinen eigenen Gedanken ablenken, indem ich die anderen betrachtete.

Leute wie Justin, die sich für etwas besseres hielten und dachten, sie würden alles nur mit einem Fingerschnipsen bekommen und von oben herab auf alle anderen sahen, gaben mir immer das Gefühl, ein Feuer würde in mir brennen.

Jessica hingegen war ein wahrer Engel und ich hatte gemerkt, dass ich nicht mehr alleine sein wollte. Dass sie mir wichtig geworden ist, immerhin ist sie nun eine Woche jeden Tag bei mir gewesen, hatte mir von ihren Tag erzählt und mir etwas von ihrem Essen abgegeben. Und ich war so dumm gewesen und hatte sie aus dummen Empfinden heraus von mir gestoßen.
Als es endlich klingelte, packte ich meine Sachen zusammen und wollte wie alle anderen aus dem Raum gehen. Vielleicht hatte ich Glück und könnte mich bei Jess entschuldigen.

»Ms. Adkins, würden Sie bitte noch einen Moment hier bleiben?«
Ich schulterte meine Tasche und ging nach vorne zum Lehrerpult, während die übrigen Schüler den Raum langsamer als sonst verließen und mich fragend ansahen. 
»Nun Ms. Adkins«, begann er und sammelte seine Papiere zusammen. »Sie sind äußerst intelligent, das wissen Sie hoffentlich. Wenn Sie in meinem Unterricht jedoch mehr Aufmerksamkeit zeigen würde, würde dies sowohl für Sie als auch für mich positive Auswirkungen haben. Auch wenn Sie über ein enormen Umfang von allgemeinen und auch nicht allzu allgemeinen Wissen verfügen, heißt das noch lange nicht, dass Sie während meines Unterrichtes mit ihren Gedanken woanders sein dürfen. Es gibt keine Extrabehandlung, schon gar nicht für neue Schüler.« 

»Natürlich Sir«, sagte ich und wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Sein Auftreten sprühte vor Autorität und ließ mich wirken wie eine Ameise unter dem Schatten eines Fußes. »Es wird nicht mehr vorkommen.«
»Das hoffe ich für Sie.« Sein stählerner Blick fing meinen auf, doch keine einzige Sekunde hielt ich diesem stand. »Sie dürfen gehen.«
»Danke Sir.«
Vor dem Raum atmete ich tief durch, spürte die Anspannung regelrecht von meinen Schultern fallen. Die letzten Nächte waren die Hölle gewesen, die Bäume und Büsche im Garten waren unglaublich laut gewesen, ihr Rascheln sorgte dafür, dass tiefe Augenringe unter meinen Augen zu sehen waren.

Doch dies war nicht der einzige Grund, weswegen mein Kopf sich wie Zuckerwatte anfühlte. Auch wenn ich es mir wünschte.
Am Ende des Flures konnte ich zwischen den vielen Kindern einen braunen Schopf ausfindig machen, dessen blonde Strähnen dem Erscheinungsbild eine edle Note gab. Und diese Haare konnten nur einer Person gehören. Ich beschleunigte meine Schritte, machte mich groß und versuchte ihr zu folgen.

An der Stelle angekommen, an der sie bis eben noch war, war sie verschwunden. Suchend sah ich mich um. Kleine Freshmen, bunte Klamotten, neutrale Gesichter der Sophormores. Dann sah ich sie.
»Jess!« Mein Ruf ging zwischen den lauten Stimmen der anderen kläglich unter, wobei ihr Kopf sich nicht einen Millimeter in meine Richtung bewegte. Zielstrebig ging sie durch den Flur auf eine Tür zu. Hastig folgte ich ihr, drängte mich an den Spinden entlang durch die Menge, sah ihren Kopf jedoch nur noch durch die Tür zum Treppenhaus gehen.

Meine Schritte stockten.
Wollte sie nicht mit mir reden? Hatte ich es endgültig geschafft und sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben? Ich wusste es nicht, aber wenn ich nicht mit ihr reden würde, würde ich es nie herausfinden.
Ich holte tief Luft und folgte ihr. Die Tür quietschte leise, die Stimmen vom Flur wehten in den kleinen Treppentrakt. Als ich die erste Stufe erklomm, kamen mir zwei Freshmen entgegen, die eilig aus dem Treppenhaus verschwanden. Kopfschüttelnd sah ich ihnen nach.

Bevor ich meinen Weg fortführen konnte, ließ mich eine Stimme stocken.
»Er will uns heute sehen. Sie haben etwas auf geschnappt, was ihn nervös macht.«
Stirnrunzelnd erkannte ich diese als Justins Stimme. Wovon sprach er? War Jess bei ihm? Mein Fuß berührte die nächste Stufe, meine Finger krampfhaft um das Geländer gelegt.

»Irgendwas stimmt doch nicht. Warum verhalten sich alle so komisch? Keiner möchte etwas sagen, aber wir sind doch nicht dumm! Hat es etwas mit Dad zu tun? Macht ihn das nervös?« Jess Stimme hallte durch das gesamte Treppenhaus. Die Wut hinter ihnen ließ mich abermals stocken. Sollte ich wieder gehen?

»Ich denke nicht. Dad hat sich für eine Seite entschieden, damit ist er für Uriah gestorben. Es muss etwas anderes sein, etwas, wovon er niemanden etwas sagen will. Heute wird er uns eh wieder nur in Gruppen aufteilen, damit wir alle ja schön den Wald nach Rumtreibern durchforsten. Er ist mein bester Freund, aber ich werde da nicht mehr mit machen.«
»Du kannst dich seinen Befehlen nicht entziehen, er ist-«
Die obere Tür flog auf. Schritte, ein müder Junior ging mit genervtem Gesichtsausdruck an mir vorbei.
»Er ist der Alpha, Justin. Auch wenn er wie ein Bruder ist, können wir uns seinen Befehlen nicht entziehen.«

Wovon zum Teufel sprachen sie? Alpha? Uriah? Gott, die Zuckerwatte verwandelte sich in Kopfschmerzen. Das war mir alles zu viel.
»Ich weiß«, seufzte Justin, wobei seine schlurfenden Schritte die Treppe hoch gingen. »Aber er sollte Klartext reden, ich werde mich nicht in etwas reinreiten lassen, was uns allen Schwierigkeiten macht.«

Jess Stimme folgte ihm aus dem Treppenhaus und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mich nicht doch lieber einsam in eine Ecke verziehen sollte. Und da nannten sie mich verrückt.

WolfheartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt