Kapitel 1

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JAKE

„Ey, Jake!" Janne stieß mich von der Seite an. Ich blickte von meinen Matheaufgaben auf und sah zu ihr. Sie beugte sich zu mir hinüber, darauf bedacht leise zu sprechen, damit Herr Speight es nicht hörte. Im Klassenzimmer war es totenstill, wie zu jeder Stillarbeitsphase im Nachmittagsunterricht.  Wer jetzt sprach war so gut wie lebensmüde, aber Janne störte das nicht. Sie schob sich eine der blondgefärbten Strähnen ihrer langen Haare hinters Ohr und blickte mich an.


Ehrlichgesagt war ich überrascht, dass sie überhaupt mit mir sprach. Für gewöhnlich redete man selten mit mir. Ich war eben nicht so spannend. Ich lehnte mich ihr etwas entgegen.    „Sach mal, hat Lysander eigentlich eine Freundin?"                                                                                Natürlich ging es nicht um mich – wie hätte ich das jemals erwarten können.                                         Ich blickte hinüber zum anderen Ende des Klassenraums, dort wo Lysander saß, den Ellenbogen auf den Tisch seinen eigenen Kopf abstützend, den Kugelschreiber in der linken Hand, der schnell über das Blatt huschte. Seine schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn, seine Augen leuchteten selbst aus der Ferne wie Bernsteine. Er war genau die Art von Typ, die ich nicht ausstehen konnte. Intelligent, gutaussehend – ein typischer Frauenschwarm. Und wirklich alle Mädchen der Schule standen auf ihn. Ja, er wäre die Art von Typ die mir so richtig auf den Sack gehen würde, wäre er nicht der beste Freund den ich je hatte. Gut. Er war auch der einzige Freund den ich je hatte, aber er war der Beste. Also ignorierte ich weitestgehend die kichernden und tuschelnden Mädchen in den Gängen, die verstohlenen Blicke, die (oft auftretende) Frage ob er denn eine Freundin habe und die Flirtangriffe auf ihn, die jedes Mädchen mit Enttäuschung zurückließen.
Denn Lysander war zwar Single, aber er hatte auch keinerlei Interesse an einer Beziehung. Jede Frage auf ein Date oder gemeinsames Essen in der Mensa lehnte er höflich lächelnd ab. Und ich war mir ziemlich sicher, dass er das Gerede um ihn nicht einfach ignorierte, sondern schlichtweg nicht verstand. Zwar war er einer der hellsten Köpfe des ganzen Internats – was eine erstaunliche Leistung ist, denn unser kleines Internat hat den Ruf der besten Schule des Landes, wo über 70% der Schüler ein Abitur im einser Bereich ablegten – aber Lysander war manchmal echt zu blöd um die einfachsten Sachen zu verstehen. Es scheiterte schon an den einfachsten Witzen.                                                                                                                                                 Damit war er jedoch auf seine besondere Art und Weise echt liebenswert. Und, wie bereits erwähnt, war er der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Er half mir immer, egal welche Probleme das auch seien mögen: lernen, Hausaufgaben, er half mir sogar mein Zimmer aufzuräumen und auch wenn ich mal wieder mitten im Unterricht aus dem Raum stürmte, weil die Stimmen in meinem Kopf wieder spontan anfingen zu schreien. Das war wahrscheinlich auch ein Grund, wieso viele mich für seltsam hielten, denn das in meinem Kopf plötzlich ein Geschrei entstand, war nicht gerade selten. Es kündigte sich zuerst an als starke Kopfschmerzen in meiner linken Stirnseite. Sehr punktuell und ätzend. Dann hörte ich Stimmen, Hilferufen, Geschrei und Weinen, so laut, dass ich nichts mehr um mich herum mitbekam, mit Kopfschmerzen die sich jedes Mal aufs neue anfühlten, als wollten sie mich töten. Und jedes Mal war es Lysander, der mir dann auf den Flur folgte. Der sich neben mich an die Wand setzte, die Hand auf meine Schulter legte und mich alleine mit seiner Anwesenheit beruhigte. Von allen Menschen auf der Welt vertraute ich ihm am meisten.
Meine Eltern? Ich habe keine. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Als ich in der Grundschule Anzeichen von Begabtheit zeigte, ließ mich meine Lehrerin an einer Aufnahmeprüfung für die fünfte Klasse dieses Elite-Internats teilnehmen. Ich bestand und wurde hier aufgenommen. Und hier traf ich Lysander. Wir wurden sofort beste Freunde und erzählten uns alles. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es nichts gab, was Lysander nicht von mir wusste, aber es störte mich auch nicht. Er war mein Freund, ich vertraute ihm. Selbst jetzt, sieben Jahre später waren wir immer noch Freunde. Er, der angesagte Schüler, mit überdurchschnittlichen Noten; Ich der Freak, mit einem (für diese Schule viel zu schlechten) Durchschnitt von 2,3.
„Nope." Beantwortete ich knapp Jannes Frage und wandte mich wieder meinen Aufgaben zu, ihr dämlich zufriedenes Grinsen ignorierend.

Als der Schulgong ertönte packten alle schnell ihre Aufgaben ein und verließen den Klassenraum. Lysander kam auf mich zu und lächelte. „Hunger?" fragte er und ich nickte. Gemeinsam gingen wir zur Mensa, stellten unsere Taschen wie gewohnt an unseren Stammtisch und stellten uns in der Reihe an. Das Gute an mega teuren Privatschulen war, dass das Essen nicht wie ausgekotzt schmeckte, abwechslungsreich und sehr lecker war. Ich nahm mir etwas von der Gemüsepfanne während Lysander sich Kartoffeln, Ei und Bratwürstchen holte. Wir setzten uns zurück an den Tisch. „Und wie kamst du voran?" fragte er während er die Kartoffeln salzte. Ich zuckte mit den Schultern. „ganz gut, denke ich." Mathe war nicht meine Stärke. Am liebsten war mir Latein und Griechisch, aber Griechisch lernten wir nur an manchen Wochenenden in Seminaren und hatte keine Stellung für das Zeugnis.                                                    Ich pickte ein Brokkoli-Röschen mit meiner Gabel auf und betrachtete es. Es sah aus wie ein kleiner grüner Baum, die Äste der Krone voller Blätter, die jedoch wie im Frühling erst dabei waren sich zu entfalten. Schnittspuren deuteten darauf, dass der Koch brutal mit seinem langen Messer einzelne Äste des Bäumchens abgeschnitten hatte, nur um sie in mundgerechte Stücke zu bringen. Lysander starrte mich an, während er auf einer Kartoffel kaute. „Isst du den auch oder betrachtest du ihn nur?" Ich legte den Kopf etwas schräg. „Ich denke nur gerade darüber nach, wie sich der Brokkoli wohl gefühlt hatte, als er mit dem Messer in Berührung kam, das kalte Metall, dass ihn in Stücke schnitt, worauf hin er blutend und schreiend in die Pfanne geworfen und bei lebendigen Leib gebraten wurde." Lysander zog eine Augenbraue hoch. „Sicher, Jakey. Am besten, du ernährst dich nur noch von Luft und Liebe, damit ja keine Pflanze mehr wegen dir Leiden muss. Dazu müsstest du nur noch über den Rasen schweben und dein Papier selber sieben. Bist du nicht schon Öko genug?" fragte er und grinste. Ich lächelte zurück und aß den Brokkoli, während ich zu sah, wie Lysander das Würstchen zerschnitt. „Ich könnte dir jetzt noch den Leidensweg deines Würstchens aufzählen, wenn du willst." Er hielt beim Schneiden kurz inne und blickte mich mit gesenkten Kopf an. „Tu es bitte nicht. Es reicht, wenn schon einer von uns Veganer ist." Ich grinste wieder und aß ohne mir über das Leben von Pilzen, Paprika, Tomate und Zucchini vor dem Kochen Gedanken zu machen weiter.

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