Kapitel 4

4 2 0
                                    

Es war Freitag. Ziemlich warm und sonnig. Ich hatte Elisa eine Nachricht geschrieben und sie hat mir einen Termin um 15.30Uhr gegeben. Es war jetzt 11.43Uhr. Ich hatte es, nachdem ich mir weiter die Augen ausgeheult hatte, geschafft etwas zu schlafen und starrte gerade in meine Bioaufzeichnungen. Ich wollte die Klausur mitschreiben, den Rest des Tages mir jedoch frei nehmen. Erstaunlicherweise verstand ich, was ich die eine Nacht aufgeschrieben hatte und hatte das Gefühl, wenigstens etwas verstanden zu haben. Vielleicht würde es diesmal für 10 Punkte reichen... Ich packte meine Klausurbögen und verließ mein Zimmer. Es hatte schon vor drei Minuten geklingelt. Meine Klasse war schon in dem Raum. Ich klopfte und Herr Kleeve öffnete, wie immer einen ziemlich mies gelaunten Ausdruck im Gesicht, die Tür. Wahrscheinlich hatte er erst vorgehabt den Störenfried vor seiner Klasse „freundlich" daraufhin hinzuweisen, dass sie doch eine Klassenarbeit schreiben würden, und daher um Ruhe geboten wurde. Doch als er stattdessen mich, mit zerzausten, ungemachten Haaren, einer lockeren Jeans und einen großen Pulli, den ich trotz der Wärme trug, vor seiner Tür stehen sah, sah ich die Verwirrung in seinen Augen. „Ich weiß, ich bin etwas spät. Kann ich noch mitschreiben?" ich bemühte mich nicht einmal um ein Lächeln. Er nickte und ließ mich ein. An seinem Pult gab er mir die Arbeitsblätter, gab mir eine kurze Einweisung und ich setzte mich auf meinen Platz. Meine Klasse blickte mich irritiert an, aber ich wollte mich nicht auf sie sondern auf meine Bioarbeit konzentrieren. Also holte ich einen Stift heraus und begann zu schreiben.

Herr Kleeve gab mir noch fünf Minuten länger als den Anderen, dann musste auch ich abgeben. Ich konnte mich bei Arbeiten noch nie einschätzen, daher versuchte ich es gar nicht erst. Außerdem war mein Kopf noch viel zu verwirrt von letzterNacht und ich war verdammt müde. Lysander wartete im Flur auf mich. Ich konnte seinen Blick nicht deuten, der wie immer wachsam auf mir ruhte. „Geht's dir besser?" fragte er. Ich wich seinem Blick aus. „Nein. Ich fahr gleich zu Elisa." Er biss sich kurz auf die Unterlippe und nickte. „Soll ich dich fahren?" er meinte es gut, doch ich schüttelte den Kopf. „Du hast Schule. Ich nehme den nächsten Bus." „okay, wenn du meinst?" wir gingen den Flur entlang und zu seinem Zimmer. Ich fühlte mich unwohl und falsch. Ich war so ein Mistkerl.

„warum bist du zu der Arbeit gekommen?" fragte er, nicht tadelnd, sondern einfach nur interessiert. „Ich habe kein Bock nachzuschreiben." Sagte ich knapp. Er nickte. „Und wie fandest du sie?" „ganz okay, denke ich. Ich glaube, ich habe bei der letzten Aufgabe nur so ein Scheiß geschrieben. Von wegen Rückläufige Hemmung oder sowas..." er blickte mich verwirrt an. „Ich hatte da was von wegen Aktivität von ATP und ADP..." „Wie auch immer. Du hast es sowieso richtig..." „muss nicht sein..." murmelte er und ich blickte ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Du hast immer alles richtig, Lys" sagte ich und musste sogar etwas grinsen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich es vergessen. „Dir gelingt was auch immer du anfässt." Er kratze sich verlegen den Hinterkopf. „Dafür kann ich nichts..." „jaja" sagte ich und kramte mein Handy aus der Hosentasche. „Ich muss gleich los." „Sicher, dass ich dich nicht fahren soll?" ich nickte. „Ja. Danke, ich komme schon klar." Es schmerzt mich zuzugeben, dass mein Lächeln in diesem Moment eine Lüge war. Eine Lüge die ich so gut beherrschte, dass sie wie die Wirklichkeit aussah. Er lächelte zurück und sein Lächeln war so offen und warmherzig, dass ich dachte, mein Herz würde vor Schuld zerspringen. „Okay. Sag einfach Bescheid, wenn ich dich abholen soll oder so." „mach ich!"

Im Bus waren erstaunlich viele Leute als ich einstieg und durch den schmalen Gang nach Hinten ging. Drei ältere Damen unterhielten sich in einem der Vierern. Ein Mann mitte dreißig saß mit einem MacBook auf dem Schoß alleine auf einer Bank, ein paar Teenager unterhielten sich laut im hinteren Teil des Busses und zeigten einander ihre Handys und die Inhalte auf dem Display. Gelegentlich brachen sie in schallenden Gelächter aus. Ich saß gegenüber von der Hintertür, Kopfhörer im Ohr und starrte aus dem Fenster. Die Landschaft sauste an mir in einem Misch aus blau, grün und braun vorbei. Die Sonne schien an einem fast blauen Himmel und in meinem Pulli wurde mir langsam warm. Aber ich würde ihn nicht ausziehen. Meine Hand lag auf dem Verband, der sich unter dem Ärmel etwas abhob. Ich hatte ihn heute Morgen gewechselt, da der andere beim Schlafen etwas... gefärbt wurde. Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten, und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Ich wollte nicht wieder weinen. Ich wollte nicht wieder schwach werden.

Voices - Diese Stimmen...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt