Kapitel 6

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Den Winter hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Nicht wegen der Kälte oder des Schnees. Sondern wegen Jake. Die grauen Tage drückten tief auf seine Stimmung. Er führte keine längeren Gespräche, war oft in Gedanken und nach einer zwei Monate langen Pause der Zusammenbrüche hatten die quälenden Stimmen wieder eingesetzt. Jake ging sogar den ein oder anderen Tag nicht zum Unterricht oder aß kaum. Soweit es ging behielt ich ihn im Auge, ich achtete sogar darauf ob er seine Tabletten nahm – und ich konnte seine Genervtheit mir gegenüber verstehen. Doch Jake blieb stabil. Ich hatte einmal gesehen, wie er das Messer in die Hand genommen hatte, aber er hatte es weggelegt und war anstelle sich zu verletzen zu mir gekommen.

Was seine Depression anging wurde er offener. Manchmal, wenn wir abends zusammen saßen erzählte er mir von seinen Gedanken. Diese Gespräche waren zwar nie sehr angenehm, aber sie schienen ihn zu erleichtern. Und ich war froh über sein Vertrauen.

„Manchmal wünschte ich, meine Eltern hätten mich nicht einfach so abgegeben... ich meine, gut ich kannte sie jetzt nicht. Hätte ja auch sein können, dass sie totale Arschlöcher waren...", fing er irgendwann aus heiterem Himmel an. Verdammt. Elterngespräche waren nicht gerade meine Stärke. „... Aber so gar nicht zu wissen wer sie sind? Ich meine, ich kann durch die Stadt gehen und wüsste nicht, dass ich gerade meiner Mutter entgegen gekommen wäre. Oder meinem Vater." Ich nickte langsam. „Zwar hat man sich immer gut um mich gekümmert aber, naja..." „es ist was anderes." Beendete ich seinen Satz. „Genau. Ich weiß so überhaupt nicht wer ich bin. Das ist echt seltsam, sorry, das verstehst du nicht... ich labert sowieso wieder zu viel." „ist schon okay" ich lächelte leicht, aber in meinem Inneren machte sich Zweifel breit. Eine Stimme in mir wollte es ihm sagen. Wollte ihm alles sagen. Nein, nicht hier. Nicht jetzt...

Der Zweifel plagte mich immer mehr. Je näher ich Jake und seinen Gefühlen kam, desto mehr wollte ich ihm die Wahrheit sagen, um ihn zu beruhigen, um ihm das zu erklären, was er nicht verstand.

Das neue Jahr kam, die Ferien starteten und die halbe Klasse reiste zu ihren Eltern. Die andere Hälfte, darunter Jake und ich, deren Eltern keine Zeit hatten, zu weit weg wohnten oder schlichtweg nicht da waren, wurden im Internat weiter betreut.

„Willst du mit auf die Fahrt?" fragte mich Jake. Diese Spontanität irritierte mich. „Warum fragst du?" Jake sah mich nicht an, anscheinend faszinierte ihn sein schwarzes Stoffarmband zu sehr. „Nur so. Die fahren dieses Jahr nach Berlin. Könnte doch spannend werden..." ich rückte näher an Jake heran, der neben mir im Aufenthaltsraum auf einer der großen Holzstufen saß. Ich neigte meinen Kopf, um sein Gesicht besser sehen zu können. Es wirkte roter als sonst -seine Wangen waren gerötet - der dunkle Blick auf das Armband fixiert. „Warum der plötzliche Umschwung?" Jake hasste diese Fahrten. In der siebten sind wir zuletzt mit der Klasse irgendwo hin gefahren. Er konnte es einfach nicht ab den ganzen Tag ohne Möglichkeit sich zu verstecken und in Ruhe seinen Gedanken nachzugehen unter Menschen zu sein. Zudem waren große Städte ein NoGo an sich. Jake zuckte wieder mit den Schultern und sah jetzt auf, starrte dennoch weiterhin geradeaus und blickte mich nicht an. „Naja, zum ersten meinte Elisa zu mir, dass in der Gruppentherapie klar wird wie wenig ich mit Menschen umgehen kann und das ich das ändern müsste. Ich sollte an meinen sozialen Fertigkeiten arbeiten und mich auf Neues einlassen. Außerdem..." er stockte kurz und sprach dann leiser weiter. „Außerdem wolltest du doch schon immer mal nach Berlin..." Ich roch den Braten. Oder besser gesagt den Brokkoli (vegans only.) Ziemlich spät für meine Verhältnisse eigentlich, aber seit dem Jakes sich psychisch und körperlich auf einen absoluten Hoch befand war es verdammt schwer ihn zu deuten. „Du willst also da mit, weil ich mal nach Berlin möchte?" Erst jetzt sah Jake mich an. Sein blauer Blick war entschlossen, aber ich konnte seine Verlegenheit und Unsicherheit an seiner Gesichtsröte ablesen.

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