Kapitel 7

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JAKE 

Ich nutze die Fahrt um mich etwas zu entspannen. Meine großen Kopfhörer dämmten das Geräusch des Zuges und auch die Gespräche von Lysander und den Mädels. Ich hörte keine Musik. Bei den Stimmen, die mich seit dem frühen Morgen wieder wachhielten war das wahrscheinlich keine gute Idee. Sie waren nicht sehr laut, aber es waren viele. Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich darauf zu konzentrieren. Mir war aufgefallen, dass wenn ich mich auf die Stimmen einließ sie mich weniger störten. Sonst hatte ich immer versucht sie zu ignorieren oder zu übertönen. Michael, ein bekannter aus der Gruppentherapie (die ich seit Anfand des Jahres zusätzlich bei Elisa besuchte), der ebenfalls unter dem Einfluss von Stimmen und Halluzinationen litt, hatte mich auf diese Idee gebracht, und hey. Es half wirklich. Denn wenn ich den Stimmen lauschte wurden die Kopfschmerzen zu einem konstanten Pochen in meiner Stirn. Das ich dadurch keine Schmerzen mehr hatte war großartig. Noch nie war es mir einfacher gefallen die Stimmen zu ignorieren als ihnen zu zuhören. Solange sie leise genug waren lief das perfekt. Und sobald sie lauter wurden war es eh egal was ich tat. Dann hatten sie die Oberland. Über mich und allem.

Ich versuchte mich gerade auf die Stimme einer Frau zu konzentrieren. Ihre Stimme klang wie die einer Zwanzigjährigen, hatte eine angenehme, tiefe Stimmlage und murmelte leise die Worte vor sich hin. Es schien mir fast so als wäre sie näher als die restlichen Stimmen, klarer und deutlicher. Die anderen waren wie ferne Echo. Außerdem hörte ich ihre Stimme in letzter Zeit häufiger. Nicht durchgängig aber regelmäßig. Irgendwie beruhigte es mich ihre Stimme zu hören. Sie war schon so vertraut. Unwillkürlich versuchte ich mir ein Gesicht zu der Stimme vorzustellen. Wie sah sie wohl aus, diese Frau? Wie war ihr Name und was für ein Mensch war sie so?

Ich zuckte etwas zusammen. Wie kam ich nur auf solche Ideen? Das ist keine Person die zu mir sprach sondern meine eigene Psyche, die nicht ganz richtig funktionierte. Wie kam ich auf die Idee, dass es ein Mensch wäre? Scheiße. Ich war wirklich verrückt. Ich setzte meine Kopfhörer ab und war wieder Teil der richtigen Welt und nicht meiner Gedanken. Lysander und Pia redeten gerade über Schule oder so. Ich rieb mir die Augen und verdrängte die Stimmen, denen ich gerade meine volle Konzentration und Aufmerksamkeit geschenkt hatte, in den hinteren Teil meiner Wahrnehmungen und hörte dem Gespräch zu. „Also, von allen Lehrern geht Wehrt ja mal gar nicht." Sagte Pia und Sahra schüttelte sich. „Der ist so ein Widerling. Glotzt Mädchen immer auf den Arsch oder in den Ausschnitt." Sagte sie angewidert. Wieder einmal bemerkte ich den Unterschied zwischen den Stimmen echter Menschen, die klar und deutlich durch meine Ohren zu meinem Gehirn gelangten und dort ausgewertet wurden und den Stimmen die in meinem Kopf entstanden. Sahras und Pias Stimmen waren klar und ich sah den Ursprung des Schalles. Das konnte auch beruhigend sein. Ich mochte zwar Sahras helle Stimme nicht wirklich, aber wenn ich mit Lysanders sprach verfolgte ich immer den Weg von seinem Mund zu meinem Ohr und Gehirn, wo sich seine tiefe Stimme entfaltete. Von allen Stimmen mochte ich seine am meisten. Melodisch und harmonisch schwebte sie durch den Raum und es fiel nie schwer ihr zuzuhören. Dazu war die Stimme weder anstrengend noch einschläfernd. Sie passte einfach perfekt zu ihm. Perfekt wie der Rest. Diese Stimme konnte laut sein und flüstern, lachen, kratzig und bedrückt sein oder beruhigende Worte murmeln. Ich mochte sie einfach. Also hörte ich dem Gespräch über die Lehrer zu und konzentrierte mich auf Lysanders Stimme. Ich wollte nicht selber reden. Meine eigene Stimme hasste ich dafür zu sehr. Wie konnte es sein, dass es auf der Erde so wunderbar perfekte Menschen wie Lysanders gibt, denen nicht nur alles gelingt sondern auch noch die beste Person war die es überhaupt geben könnte, und dann.... Dann war da ich.

Wie so oft geisterte die Frage durch meinen Kopf warum sich Lysander mit mir abgab. Wie er es ertragen konnte mein hässliches Gesicht zu sehen. Ich selbst konnte es ja kaum ausstehen zu lange in den Spiegel zu sehen. Und sonst sah ich mich ja nicht. Er dagegen schon - Was tat ich hier überhaupt? Was veranlasste mich mit diesen Menschen in eine Großstadt wie Berlin zu reisen? Scheiße. Ich hatte überhaupt kein Bock auf Menschen, Läden und sonst was. Ich hatte kein Bock auf diese scheiße, ich wollte zurück in mein Zimmer - Fuck it! - Was sollte das? Dieser ganze scheiß mache mich wahnsinnig! Ich war ein verfickter scheiß Egoist auf einer verfickten scheiß Welt die ich hasste und sie mich. Warum war ich noch weiter hier? War ich selbst für den Tod zu schrecklich? Muss ich weiter in dieser Hölle versinken, mit Menschen, die wahrscheinlich nur aus Mitleid mit mir sprachen, weiterhin mich, meine Gedanken und alles was mit mir zu tun hatte hassen? Scheiße! Wie sollte ich mich denn mögen, hä? Oh ja klar, Elisa meinte stets das käme mit der Zeit - ja du mich auch, du scheiß Psychologin! Du scheiß Welt! Du verficktes Arsch Leben! Ich hasse es! Ich hasse dich! Ich hasse mich! Ich hasse diese Fahrt, ich hasse diese Stadt, ich hasse alles hier! Lasst mich in Ruhe, lasst mich einfach alle! Lasst mich verdammt noch mal sterben!

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