2. Rot-Blau

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"Sie können sie doch nicht einfach von hier wegnehmen", schluchzte Skye. Im Gegensatz zu ihrem Namen ähnelte sie in keiner Weise dem Himmel mit ihren roten Haaren und den großen grünen Augen, die die gleiche Farbe hatten wie die Bäume um sie herum.

Sie hatte es nicht leicht als Rothaarige, denn durch diese Haarfarbe wurden die Magier immer an die letzten Hexenverfolgungen zur Zeit des Mittelalters erinnert. Es war wohl eine schreckliche Zeit, denn selbst diejenigen, die gar nichts mehr von dieser Zeit mitbekommen hatten, spuckten sie auf der Straße an.

Connor, mit seinen dunklen Haaren und dunklen Augen, rückte auf dem umgestürzten Baumstamm näher zu ihr und schlang seine mit Muskeln bepackten Arme um ihren dünnen Körper. Er konnte sie nicht weinen sehen. So sehr es ihm auch wehtat, dass Hope ihm und seinen Freunden einfach entrissen wurde, noch mehr Schmerzen bereitete es ihm, Skye weinend zu sehen.

"Sie ist fast 16. Sie können ab morgen mit ihr machen, was sie wollen", bemerkte Daniel, der auf einem Baumstumpf, der mit Moos überzogen war, saß.
Sein blondes Haar hing ihm tief ins Gesicht und verdeckte auf diese Art und Weise seine grünen Augen, die mit Wasser benetzt waren. Er krallte seine Fingernägel tief in den Baumstamm, um so der Wut und Trauer ihren Lauf zu lassen.
Er war immer derjenige, der alles realistisch sah. Und diesmal erblickte er wirklich keine noch so kleine Aussicht.

Daniel trauerte mindestens genau so sehr wie alle anderen. Obwohl sie nicht gestorben war, so fühlte es sich doch so an.
Denn es gab kaum eine Chance, dass sie Hope je wiedersehen würden.
Dass sie, wie sonst immer, alle stundenlang dort auf dieser Lichtung mitten im Wald zusammensaßen, redeten und sich über die Regierung aufregten.
Dass sie die wenigen kostbaren Momente des Glücks zusammen verbringen würden.

"Hoffentlich hat sie im Palast ein besseres Leben."
Grace war immer optimistisch. Sie sah immer das Gute in Allem. Und Jedem.
Ein Windstoß, der über die Lichtung schnellte, verwirbelte ihre brünetten Haare und sie musste diese erst wieder aus ihrem Gesicht streichen, bevor sie weitersprechen konnte.
"Bestimmt ist der Präsident nicht so schlimm wie man immer sagt."
Doch diesmal konnte sie selber nicht ganz daran glauben.

"Sei froh, dass du noch 15 bist, Grace. Noch bist du so frei, wie du selbst es bestimmst."
Daniel sprach aus Erfahrung. Schon seit er klein war wollte er zu den höheren Menschen gehören, um sich und seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch da seine Eltern Bauern waren, hatte er nicht viele Aufstiegsmöglichkeiten. Mit ganz viel Glück hatte er es geschafft, Lehrer zu werden.
"Aber Connor, du müsstest es doch bestimmt irgendwie schaffen, an sie ranzukommen."

Grace schöpfte Hoffnung, da Connor auf Grund seiner Stärke als Dunkelkämpfer ausgewählt wurde. Er sollte als einer von ihnen die Menschen bespitzeln und Wiederstände niederkämpfen.
Und so hatte er natürlich auch Zutritt zu Räumlichkeiten, von denen die meisten Menschen nichts wussten und Kontakt zu Persönlichkeiten, die wirklich mitreden durften.

"Da lässt sich wirklich nichts machen. Ich habe mich nach der Versammlung direkt unter meine Kameraden gemischt. So wie ich es verstanden habe, unterliegt sie der Sicherheitsstufe Rot-Blau. Nur der Wächter aus dem Palast und die Drei Magier dürfen sie überhaupt sehen."

Seit Jahren gab es niemanden mehr dort in der Stadt, der unter Sicherheitsstufe Rot-Blau stand. Es war die Höchste, die Menschen bekommen können. Höher war nur noch Violett, doch diese trat nur ein, wenn der Präsident selbst zu Besuch kam. Allerdings passierte dies höchstens alle sieben Jahre einmal. Selbst jetzt, wo er seine Frau hier ausgewählt hatte, kam er nicht in die Stadt.

"Ich hätte alles dafür gegeben, sie noch einmal wiederzusehen", schluchzte Skye.
Connor wollte nichts lieber als ihr diesen Wunsch erfüllen, doch konnte er wirklich nichts machen.

"Ich hätte ihr noch so viel zu sagen", fügte Grace hinzu.
Daniel stimmte ihr in Gedanken zu. Vor allem er hatte ihr noch einiges zu gestehen.

Stille legte sich über die vier Jugendlichen. Keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte, da in allen Gedanken das Gleiche vorging.

Irgendwann unterbrach Skye die Stille.
Einerseits, weil sie diese Trauer so nicht ertragen konnte und andererseits war sie wirklich durstig.
"Hat jemand vielleicht etwas Wasser?"

Schnell griff Connor nach seinem Beutel und wühlte nach der Wasserflasche, die er immer bei sich trug, da er mittlerweile wusste, dass Skye immer Durst hatte.

Da die Flasche aber ziemlich weit unten in die Tasche gefallen zu sein schien, musste er lange suchen. Dabei fiel ihm etwas in die Hände, was auf keinen Fall dort hinein gehörte.

"Hat jemand von euch eine Ahnung, was das ist?", fragte er während er die kleine Papierrolle hochhielt, damit jeder sie sehen konnte. Connor hielt sie sehr vorsichtig, da er dachte, das alte Papier könnte jederzeit zerfallen.

Die Anderen sahen ihn auch nur verwirrt und mit fragenden Blicken an, weshalb er die Rolle langsam aufrollte.

Seine Augen weiteten sich. Wenn jemand dies in seiner Tasche gefunden hätte, wäre er jetzt nicht nur seine Ausbildung zum vollkommenen Dunkelkämpfer los, nein, er wäre auch für Hochverrat hingerichtet worden.

"Ich denke, du solltest das Hope geben", bemerkte Skye ruhig. Entweder erkannte sie die Gefahrenlage nicht oder konnte einfach gut Ruhe bewahren. Doch das war eher unwahrscheinlich.

"Was habt ihr denn da?", fragte Daniel bei der Erwähnung von Hopes Namen unruhig.

"Zauberformeln", atmete Connor nur aus.

Grace und Daniel sahen ihn geschockt an.
Denn es war nicht nur die Erkenntnis, etwas Verbotenes in der Hand zu halten, sondern auch die Bestätigung für die lange von der Regierung und dem ganzen Gesellschaftssystem verleugneten Rebellen. Die Lehrer hatten nie ein Wort über sie verloren, nur die Schüler tuschelten im Geheimen über die neusten Gerüchte und Heldentaten.
"Irgendwelche Kämpfer aus dem Untergrund müssen es dir zugesteckt haben, nachdem wir alle von der Versammlung gekommen sind", stellte Daniel fest.
"Damit du es Hope gibst", fügte Grace flüsternd und voller Ehrfurcht hinzu.

"Das ist leider unmöglich. Wir sollten das hier lieber irgendwo verstecken. Es bringt uns alle in Gefahr."
Angewidert hielt Connor die Rolle so weit wie möglich von sich weg.

"Am besten hier. Niemand hat unseren kleinen Ort hier je gefunden", schlug Grace vorsichtig vor.
"Und genau deshalb sollten wir es irgendwo anders verstecken. Hier wird man es sofort mit uns in Verbindung bringen", verwarf Daniel diesen Vorschlag gleich wieder.

Stille breitete sich wieder über die vier Menschen aus. Jeder hing seinen Gedanken und Plänen nach.
Sie alle wussten, wie wertvoll dieses Jahrhunderte alte Stück in ihrer Mitte war. Doch hatten sie keine Verwendung dafür. Und in keinem Fall konnten sie es den Untergrundkämpfern zurückgeben, denn diese lebten wie normale Menschen unter ihnen. Nur wusste niemand, wer wirklich zu ihnen gehörte.

"Meint ihr, sie wird uns irgendwann vergessen?"

Kaum hatte Skye diese Worte ausgesprochen, hörten sie ein Rascheln in dem Gebüsch, das ihren geheimen Ort verbarg.

The Heart's ClawWo Geschichten leben. Entdecke jetzt