Deuxième cauchemar

617 73 11
                                    

"WAS IST DENN HIER LOS?!" Der Müller steht, wie nicht anders erwartet, in der Tür. Kevin versucht vergeblich, seinen Markierer hinter seinem Rücken zu verstecken und Jeson meint trotzig: "Des warn di Mädels!" "BOAH DU FOZE GAR NISCH WAR!!", brüllt Schantalle prompt, die gerade hinter unserer Schutzmauer hervorkrabbelt. Anklagend zeigt sie auf den Fleck auf ihrer Jacke. "Des hat Kevin gemacht der behinderte-" "RUHE!", schneidet der Müller Schantalle das Wort ab. "Ey bissde bescheuert du Fickfresze isch rede grade!" Empört wirft Schantalle ihr wasserstoffblondes Haar über ihre Schulter. "Also, das muss ich mir nicht bieten lassen! Und wie sieht es hier überhaupt aus! Kevin, Jason, Chantal- zum Direktor!" "DES SPRICHT MAN SCHANTALLE AUS DU SPAST!", keift Schantalle sofort. "ZUM DIREKTOR, HABE ICH GESAGT, ABER DALLI!", Herr Müller ist schon ganz rot vor Wut. "Schrein se misch nisch gleisch so an, boah..." Widerwillig greift Schantalle nach ihrer, jetzt regenbogenfarbenen, Tasche und zieht schlurfend von dannen. Als ob sie jetzt zum Direktor geht. Als ob irgendjemand der dreien zum Direktor geht. Ich sollte ihr folgen, nachher raubt sie noch einen Starbucks aus oder kidnappt ein gewisses Boybandmitglied. Außerdem ist ein Tag mit Schantalle außerhalb der Schule viel besser als Mathe oder irgendein anderes Fach, das wir heute haben. Wir können, dank des Paintball-Blitzkrieges, ja sowieso keinen Unterricht machen. Also greife ich wortlos meine schwarze Reisetasche und verlasse, ebenfalls schlurfend, den Klassenraum. Keiner hindert mich daran, keiner ruft, ich solle zurückkommen. Das letzte, was ich sehe, bevor ich die Tür hinter mir schließe, ist Herr Müller, der verzweifelt von der kaputten, bunten Tafel zu den übrig gebliebenen Schülern und wieder zurück schaut.

"Ey, isch hap schon gedenkt der Mülla kriegt gleisch'n Anfall dat Hobbitkind ey...!" Da muss ich ihr ausnahmsweise einmal Recht geben, sowohl bei dem Anfall, als auch bei der Bezeichnung "Hobbitkind" (woher Schantalle auch immer weiß, was ein Hobbit ist). Mit seinen 140cm Körpergröße hat es Herr Müller, gerade als Lehrer, nicht leicht. Kein Wunder steht er immer kurz vor einem Tobsuchtsanfall, Blitzkrieg hin oder her. Würde mir wahrscheinlich ähnlich gehen, wenn selbst Fünftklässler herablassend auf mich herabschauen und meiner Bitte bzw. meinem Befehl, auf dem Flur nicht Fußball zu spielen, einfach den Mittelfinger zeigen und sich den Arsch ablachen.
"Und was machen wir jetzt?", frage ich neugierig. Schantalle sieht mich an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. "Stabaks nadürlösch", antwortet sie, doch bevor wir wirklich das Schulgebäude verlassen, zieht es sie noch auf die Mädchentoilette. Nicht, um auf's Klo zu gehen, versteht sich.
Während Schantalle sich im Spiegel betrachtet und ihr Make-up um eine weitere Schicht vermehrt- ich meine natürlich, ihr total dezent und natürliches Make-up auffrischt, posiere ich vor dem großen Spiegel an der anderen Seite der Wand. Dieser reicht von der Decke bis zum Boden und obwohl ich auf Selfies fast immer bescheuert aussehe, macht es Spaß, wie ein Möchtegern-Instagram-Model berühmt-berüchtigte Mirrorselfies zu machen, nur um daraufhin alle bis auf zwei zu löschen.
Ich bin gerade mit meiner "Fotostrecke" fertig, als mich Schantalle erst aus dem Waschbeckenraum der Mädchentoilette und schließlich aus dem Schulgebäude herauszieht. "Schteig ein!!!", fordert sie mich auf, als wir ihren pinken Mini erreichen. Denn Schantalles können keine anderen Auto fahren, nur Minis. Ich tue wie mir befohlen und lasse mich seufzend in den Sitz fallen.

Ein lautes Hupen ertönt. "Aschloch ey", murmelt Schantalle zum bestimmt schon dreißigsten Mal, seit wir den Parkplatz der Schule verlassen haben. Genervt verdreht sie die Augen und trommelt ungeduldig auf dem Lenkrad herum. Der PKW vor uns versucht gerade, sich in eine enge Parklücke am Straßenrand in der Innenstadt zu quetschen, die eigentlich viel zu klein für die Größe des Autos ist. Durch die ungeschickten Einparkversuche wird der ganze Verkehr aufgehalten und hinter uns hat sich eine lange Autoschlange gebildet. "Beeil disch mal du Spast mir hams eilisch!!", meckert Schantalle. Hinter uns ertönt ein zweites Hupen, während der PKW-Fahrer seelenruhig weiter versucht, in die Parklücke zu kommen. "Wenn der jezz nisch gleisch sein verficktes Pehkahweh rischtig einpakt dan schteig ich aus und schlag dem in di fresse isch schwöre...!" Charmant wie immer starrt Schantalle genervt aus dem Fenster. Nach dem gefühlt zehntausendsten Versuch hat der Fahrer es endlich geschafft- sein PKW steht in der Parklücke. Man könnte meinen, dass Schantalle jetzt endlich Ruhe geben, weiterfahren und sich die Autoschlange hinter uns auflösen würde. Aber da hat man nicht mit Schantalle gerechnet. "So, isch ge da jezz raus!" Schantalle öffnet die Autotür der Fahrerseite ihres Minis, steckt sich einen Kaugummi in den Mund und stöckelt demonstrativ kauend auf den PKW-Besitzer zu, welcher auch gerade aus seinem Wagen steigt. Schließlich beschließe auch ich, aus dem Mini auszusteigen, um alles ganz nah mitzuerleben. Inzwischen ist Schantalle schon beim PKW-Fahrer angekommen, welcher ziemlich groß ist. Größer jedenfalls als Schantalle. Außerdem ist er dunkelhaarig und sieht ziemlich ungewaschen aus, er ist vielleicht so um die Ende dreißig und aus seinem Mund ragt ein kurzer Glimmstängel. Seine Laune ist der Schantalles sehr ähnlich, denn auch er schaut mürrisch drein. Dadurch lässt sich Schantalle jedoch nicht beeindrucken, im Gegenteil. "EY SIE DAH!" Der PKW-Mann starrt sie irritiert an. Immerhin sieht man nicht jeden Tag einen regenbogenfarbenen Adidas-Pudel auf High Heels. "HÄTTN SE SISCH NISCH MAL BISSSCHN BEEILN KÖNEN SI WIXA? SI SEN DOCH DAS DA NOCH ANDARE LÄUDE WATEN!" Der Mann möchte etwas erwidern, doch Schantalle schneidet ihm das Wort ab. "DAS NÄSCHSTE MAL SUCHEN SI SISCH BESSA MAL NE LÜCKE WO SIE AUCH REINPASEN!!!!!!!!!!" Gekonnt stellt sie sich auf ihre Zehenspitzen und gibt dem PKW-Mann eine Ohrfeige. Dann tritt sie ihm noch provokant gegen sein Schienbein, als Warnung für "näschstes Mahl trefe isch ire Eier isch schwöre!!" und stöckelt elegant zurück zu ihrem Auto bzw. zu mir. Die Leute hinter uns haben aufgehört, zu hupen, stattdessen ist der Großteil von ihnen ausgestiegen und ist jetzt glücklicher Besitzer einer Videoaufnahme von Schantalle, die gerade den ungeschickten PKW-Fahrer ohrfeigt.
"Und, fühlst du dich jetzt besser?", frage ich Schantalle belustigt, als wir weiterfahren. "Ziemlisch", gibt diese ungeniert zu, "aba den Mülla hett isch lieba geschlagt, dises scheiß hobbitkind."

Damned ClichéWo Geschichten leben. Entdecke jetzt