Kapitel 3 {die roten Punkte}

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Vor mir erstreckte sich ein langer Flur. Die Wände waren kahl und schlicht in weiß bestrichen. Links und rechts gingen einige Holztüren ab, die aber alle geschlossen waren. Ganz am Ende des wohl etwa 20 Meter langen Durchgangs, direkt gegenüber von mir, konnte ich einen großen Raum erkennen, dessen Tür als einzige offen stand. Hin und wieder huschten Gestalten daran vorbei, außerdem schienen die Stimmen und das Gelächter auch von dort auszugehen. Was war das hier? Sollte ich zu dem Raum gehen?
Unschlüssig trat ich auf dem Betonboden hin und her. Dabei hörte ich dem Geräusch, das meine nassen Sneakers verursachten, wenn sie auf den Boden trafen zu. Es musste definitiv geregnet haben. Meine Schuhe waren komplett vom Wasser durchtränkt, seltsamerweise spürte ich das überhaupt nicht. Vielleicht war ich einfach zu verwirrt um daran zu denken.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Damien musste jetzt also hinter mir stehen. Einen kurzen Moment später lief er auch schon an mir vorbei mit schnellen Schritten den Flur entlang, auf den erleuchteten Raum zu. Er drehte sich nicht nach mir um oder sagte mir, dass ich ihm folgen sollte. Vermutlich ging er davon aus, dass ich das sowieso tun würde. Eigentlich wäre das eine gute Chance gewesen zu flüchten, vorausgesetzt die Tür war nicht mit irgendeinem kranken Verschlüsselungssystem verriegelt. Obwohl ich davon ausgehen konnte, nachdem Damien sie nur mit seinem Handabdruck geöffnet hatte. Flüchten oder nicht? Wenn die Tür aufging wäre ich sofort draußen, Damien war schon zu weit entfernt um mich direkt aufhalten zu können. Dann musste ich nur noch versuchen den Weg zurück zu finden und das schneller, als er mich einholen konnte. Wobei der schmale Gang hinter der Tür bei meinem Fluchtplan Probleme machen könnte. Scheiße, ich hätte es darauf achten sollen, ob es noch eine zweite Straße gab, die von hier ausging. Sollte die Tür nicht aufgehen, konnte ich das sowieso vergessen, dann war er innerhalb von Sekunden hier. Was nun? Viel Zeit darüber nachzugrübeln blieb mir nicht, denn Damien hatte den Raum fast erreicht. Sicherlich würde er spätestens dann überprüfen, ob ich hinter ihm war. Meine Beine begannen zu zittern und meine Hände ebenso, ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Wie festgewurzelt stand ich in dem seltsamen Gang und zählte die Sekunden, die mir noch blieben. Wieso zur Hölle geriet immer ich in so einen Müll? Wieso nicht Ashley, mit ihrem hässlichen Chihuahua und ihren kichernden Freundinnen, die ihr auf Schritt und Tritt folgten? Oder James, diesem Loser, der in Mathe ganz hinten saß und immer auf sein Gameboy, das ihm wahrscheinlich seine Eltern vererbt hatten starrte. Nein, ich musste es natürlich sein.

Damien drehte sich nach mir um. Zitternd blieb ich immer noch auf der Stelle stehen. Es war noch genug Distanz zwischen uns um jetzt umzudrehen und versuchen abzuhauen, aber wollte ich das überhaupt? Wenn sie mich vergewaltigen, ausrauben oder sogar umbringen wollten, dann hätten sie das schon längst getan, oder?! Was war dann der Grund mich zu verschleppen und herzubringen? Und vor wem oder was mussten wir gerade flüchten? Meine Gedanken überschlugen sich und ein leichtes Stechen im Hinterkopf kündigte an, dass ich bald ziemlich starke Kopfschmerzen bekomme würde, wenn das so weiter ging.
"Komm", sagte er ruhig und nickte in Richtung des Raumes. Seine Art war seltsam. Er hatte diese dunkle, beängstigende Aura und trotzdem war er immer komplett ruhig und ausgeglichen. Damien wandte sich wieder dem Raum zu, blieb aber auf der Schwelle stehen. Ohne wirklich eine Entscheidung getroffen zu haben, schlich ich langsam durch den Flur. Irgendwie wankte er leicht. Was hatte dieser Damien mir untergejubelt oder war das einfach wegen den Kopfschmerzen? Erst jetzt begann ich zu spüren, wie kalt meine Füße in den nassen Schuhen waren. Als ich an einer der Seitentüren vorbei lief, drückte ich versuchshalber die Klinke herunter. Wie ich schon erwartet hatte, lies sie sich nicht öffnen.
Kurz bevor ich Damien erreichte ging er schon in den Raum und ich folgte ihm. Ich blinzelte, das Licht war hier viel heller als die funzeligen Glühbirnen im Flur.

Dann nahm ich wahr, dass der Raum um mich herum einem Aufenthaltsraum ähnelte. Es gab eine Sitzecke und einen Karmin. Einige Dosen und Flaschen stapelten sich auf einem Beistelltisch. Was mir aber sofort ins Auge fiel, war der große Bildschirm, der einen Stadtplan oder etwas ähnliches zu zeigen schien. Auf ihm blinkten verschiedenfarbige Punkte, die sich bewegten. Was hatte das zu bedeuten? Verfolgten die hier etwa Personen? Bei welchen Spinnern war ich bitte gelandet?!

Erst jetzt spürte ich die Blicke auf mir. Alle waren still geworden und jeder von ihnen beobachtete mich. Ich erkannte den Typen aus dem Hinterhof, Colin, der jetzt zu Damien schielte, welcher neben mir stand. Gegenüber von Colin saßen zwei Mädchen, eine mit schwarzen Haaren, ähnlich denen von Damien, die andere war blond. Die letzte Person im Raum war ein hochgewachsener Junge, ich schätzte ihn auf ungefähr 17, der jetzt auf Damien zu ging.
"Du hast sie gefunden", sagte er neutral. "Natürlich, Everett. Du kennst mich doch" Er lachte leise und Everett stimmte ein. Dann ging er auf mich zu und macht Anstalten mir die Hand zu schütteln, unterlies es aber. Wahrscheinlich, weil ich ihn wirklich seltsam anstarrte. Aber ich konnte meine Gedanken einfach nicht sortieren. Ich verstand einfach gar nichts mehr die ganze Situation verunsicherte und verwirrte mich komplett. "Willkommen im Team, Amber", meinte Everett deshalb schlicht. Er fuhr sich durchs Haar und nickte dem blonden Mädchen zu. "Gianna, erklär ihr erstmal das wichtigste" Diese lächelte, stand auf und ging in meine Richtung. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Damien sich entfernte und auf Colin zusteuerte.
Zerstreut stand ich mitten im Raum, während mich immer noch alle anstarrten, als wäre ich gerade gestorben und vor ihren Augen wieder auferstanden. Vielleicht sah ich auch einfach aus wie eine Verrückte, wie ich hier mitten in dem Raum stand, mit nassen Klamotten, Wunden an den Händen und den Mund nicht aufbekam.

Da stand Gianna auch schon vor mir. Von nahem war sie bildhübsch. Sie hatte dunkelbraune Augen, die von langen Wimpern umrandet wurden und ein wirklich sympathisches, weißes Lächeln.
"Hey, ich bin Gianna, du musst Amber sein" Ich nickte nur. "Mach dir keine Sorgen, ich war genauso verwirrt, als ich hier ankam. Ich erkläre dir gleich alles, aber vielleicht solltest du dir erst mal etwas anziehen", plapperte sie los. Ich lachte nervös. "Ja, das wäre nicht schlecht", brachte ich hervor. Woraufhin mich wieder alle anstarrten, vermutlich, weil sie zum ersten Mal den Klang meiner Stimme hörten. "Dir müssten Klamotten von mir passen, ich suche kurz welche, setz dich einfach hin", meinte sie daraufhin und drückte mich auf einen Hocker in der Sitzecke. Die anderen wandten sich wieder ihren Gesprächen zu und ich schaute kurz zu Damien, der jetzt mit Colin zu diskutieren schien.

Ich lies meinen Blick wieder über den Raum schweifen und er nagelte sich erneut an dem großen Bildschirm fest. Jetzt war ich mir sicher, dass er eine Karte von New York zeigte. Es war der genaue Umriss der Stadt. Die Punkte hatten sich weiter bewegt. Ich stellte fest, dass es sich um rote, violette, grüne, gelbe, blaue und schwarze Punkte handelte. Die schwarzen Punkte waren überall. Auffällig war, dass die meisten roten Punkte sich alle auf einem Fleck aufhielten und auch kaum bewegten. Ich zählte die roten Punkte. Es waren genau 5.

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