Kapitel 1

6.3K 303 83
                                    

Als Cas die Küche des Bunkers betrat, wusste Dean sofort, dass mit dem Engel irgendetwas nicht in Ordnung war. Seine Haltung war nicht wie sonst kerzengrade, im Gegenteil. Cas schlurfte schon beinahe in den Raum, hatte die Schultern kraftlos hängen lassen und den Kopf gesenkt. Er ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Dean fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Armen, machte allerdings keinerlei Anstalten, Dean zu begrüßen oder gar auch anzusehen. Dean runzelte verwirrt die Stirn, stellte die Bierflasche, die er noch in der Hand hielt, auf den Tisch und räusperte sich schließlich, um die Aufmerksamkeit des Engels auf sich zu ziehen. Langsam hob Cas den Kopf und augenblicklich weiteten sich Deans Augen vor Schreck und Erstaunen. sein bester Freund sah aus, als hätte mehrere Tage am Stück durchgefeiert. Dunkle Augenringe zierten das blass aussehende Gesicht und Cas' Augen selbst waren rot umrandet und erschreckend farblos.

„Woah, Cas, was zur Hölle ist denn mit dir passiert?"

„Ich habe einen anderen Schnapsladen gefunden", seufzte Cas und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Und was dann? Hast du den Laden etwa leer gesoffen?"

„Und die Bar ein paar Straßen weiter auch, ja", war die ernüchternde Antwort. Dean schüttelte den Kopf. Wer oder was hatte Cas dazu gebracht, sich dermaßen zu betrinken? Er wollte gerade nachfragen, als er bemerkte, dass der Engel den Kopf wieder auf die Tischplatte bugsiert hatte und nun leise vor sich hin schnarchte. Ein leichtes Lächeln huschte über Deans Gesicht, als er Castiel so vor sich sah. Er sah irgendwie... niedlich aus mit den verstrubbelten dunklen Haaren und dem etwas zerknitterten Trenchcoat. Doch genauso schnell wie ihm der Gedanke gekommen war schüttelte Dean ihn wieder ab. Cas war nicht „niedlich". Mit wenigen Schlucken trank Dean den Rest seines Bieres aus und versuchte dann, Cas in sein Zimmer zu tragen, ohne den schlafenden Engel zu wecken. Das war leichter gedacht als getan, denn Cas war nun wirklich kein Fliegengewicht. Doch zum Glück schaffte er es, seinen Freund unbeschadet in seinem Bett abzulegen. Dean zog ihm noch schnell die Schuhe aus und legte dann eine Wolldecke über ihn. Cas gab ein zufriedenes Seufzen von sich und kuschelte sich tiefer in die Bettwäsche ein. Schon wieder musste Dean lächeln und verließ nach einem letzten prüfenden Blick das Zimmer.

Irgendwann im Laufe des nächsten Tages machte Dean sich mit einer großen Packung Kopfschmerztabletten und einem Glas Wasser auf den Weg zu Cas, nachdem er sich über viele Stunden hinweg nicht hatte blicken lassen. Er nahm beides in die linke Hand und wollte die Tür öffnen, als ihn ein Geräusch innehalten ließ, das sich nach einem Schluchzen anhörte. Skeptisch drückte Dean sein Ohr an die Tür, um besser hören zu können, doch da war das Geräusch schon wieder. Definitiv ein Schluchzen. Castiel weinte. Ohne anzuklopfen betrat Dean das Zimmer und suchte nach dem Engel. Sein Blick fiel natürlich sofort aufs Bett, aber was er dort sah, ließ ihn erneut stutzig werden. Anscheinend hatte sich Cas in der Nacht jede verfügbare Decke geschnappt, die er hatte finden können und sich anschließend in diese eingewickelt. Und zwar so, dass man nicht mal mehr seinen Kopf sehen konnte. Nur das stetige Schluchzen verriet Dean, dass sich Cas mitten in dem Deckenberg befand. Dean stellte das Glas und die Tabletten schnell auf dem Nachttisch ab und wandte sich dann dem Deckenhaufen zu.

„Cas?", fragte er und versuchte gleichzeitig den Engel zwischen den Decken ausfindig zu machen. Das Schluchzen brach abrupt ab und wurde durch ein lautes Schniefen ersetzt.

„Dean? Bist du das?"

„Wer denn sonst? Sammy ist doch noch unterwegs wegen dieser Sache in Tulsa. Verrätst du mir, was mit dir los ist?"

Cas schniefte erneut. „Mit mir ist alles in Ordnung, Dean. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen."

„Verarschen kann ich mich alleine, Cas. Erst kommst du hier gestern Abend sturzbetrunken an und jetzt heulst du Rotz und Wasser und versteckst dich in einem Deckenhaufen. Sag mir nochmal, dass alles okay ist und fange an, dir Federn auszurupfen", schimpfte Dean. Augenblicklich begann Cas, wieder zu schluchzen und stieß ein jämmerliches Wimmern aus. Der Jäger war jetzt noch verwirrter als zuvor und ließ sich auf die Kante des Bettes sinken. Während er vorsichtig die Decken auseinanderschob, um richtig mit Castiel sprechen zu können, versuchte er, ihn ein wenig zu beruhigen. „Hey, Cas, das war doch nicht böse gemeint. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, Kumpel." Endlich hatte er den Kopf des Engels in den vielen Decken gefunden und zog seine Hände zurück. Cas hob sofort den Kopf und sah Dean aus riesigen, wässrigen Augen an. Er hatte sich zwar die Mühe gemacht, die ganzen Decken zusammenzusuchen, aber nicht seine Klamotten zu wechseln, wie Dean feststellte. Der Anzug sah hoffnungslos zerknittert aus.

„Aber warum hast du dann gesagt, dass du mir meine Federn ausreißen willst? So etwas würde meiner Gnade beträchtlichen Schaden zufügen, Dean. Ich glaube nicht, dass mir das helfen würde." Cas hielt einen Moment lang inne und plötzlich weiteten sich seine Augen noch ein Stück mehr, falls das überhaupt möglich war. „Liegt es daran, dass du meine Flügel hässlich findest, Dean? Du kannst ruhig ehrlich sein. Aber eigentlich hast du sie doch noch gar nicht richtig gesehen, nur ihre Schatten. Waren die Schatten etwa schon so abschreckend für dich?" Ein gehetzter Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Engels und er packte Dean fest bei den Schultern. „Ich kann sie dir zeigen, wenn du willst, vielleicht änderst du deine Meinung ja noch und lässt mich meine Federn ja doch noch behalten, in Ordnung?" Cas machte Anstalten, aus seinem Deckenhaufen hervorzukriechen, aber Dean stoppte ihn, was nur dafür sorgte, dass der Engel sofort panisch wurde. „Aber Dean, du kannst das solch nicht ernst meinen? Das sind meine Flügel und ohne Flügel... Was soll ich denn ohne meine Flügel machen? Ich-"

An dieser Stelle unterbrach Dean den Engel, löste sanft seine Hände von seinen eigenen Schultern und nahm Cas' Hände in seine eigenen.

„Hör mir mal zu, okay, Cas? Niemand wird hier irgendwem Federn ausreißen. Es tut mir leid, dass du mich falsch verstanden hast, in Ordnung? Aber Mann, du redest hier echt nur wirres Zeug. Am besten ist es, du legst dich nochmal hin und versuchst, ein wenig zu schlafen. Deine Augenringe sind immer noch riesig." Dean stand auf und wollte gehen, doch Cas umschloss blitzschnell sein Handgelenk und hielt ihn somit zurück.

„Kannst du hierbleiben, Dean? Ich möchte nicht allein sein."

Dean dachte einen Moment lang darüber nach. Zusammen mit Cas in einem Bett? Würde das gut gehen? Was, wenn einer von ihnen mit einem Ständer aufwachte? Wusste Cas überhaupt, was eine Morgenlatte war? Wahrscheinlich nicht. Cas war sexuell genauso unerfahren wie eine Kartoffel, wenn man einmal von der Sache mit April absah. Und Dean würde sich schon zusammenreißen können. Ihm war durchaus bewusst, dass sein bester Freund einen attraktiven Körper hatte und mit jedem Tag, den sie zusammen verbrachten, wuchs Dean der Engel weiter ans Herz. Doch es gab ein Problem. Dean wusste, dass Cas kein Meister im Bereich der menschlichen Gefühle war und er wollte um keinen Preis riskieren, dass Cas sich auf ihn einließ, weil er sich in irgendeiner dämlichen Weise dazu verpflichtet fühlte oder nur vermutete, dass das was er für ihn fühlte auch Liebe war, nur um dann später zu erkennen, dass er sich geirrt hatte. Nein, dieses Risiko wollte Dean nicht eingehen. Es war alles gut, wie es im Moment zwischen ihnen war.

„Dean?", holte besagter Engel ihn aus seiner Gedankenwelt zurück in die Realität und sah ihn fragend an.

„Ja. Nein. Ich meine, ich bleibe gerne bei dir", brabbelte der Jäger etwas nervös. Nur weil er beschlossen hatte, nichts mit Cas anzufangen und sich zusammenzureißen, hieß das nicht, dass er besonders gut darin war. Rasch zog er sich bis auf die Boxershorts aus und nahm für Cas eines seiner Shirts aus der Kommode. Er warf es dem Engel zu, der Dean zuerst verwirrt anstarrte. „Du solltest dir zum Schlafen was Anderes anziehen, Cas. das ist erstens bequemer und zweitens musst du deine Klamotten dann nicht Mojo-Bügeln."

„Ziehst du dir denn nichts Anderes mehr an?", wollte Cas wissen und legte jetzt sogar den Kopf schief, wie immer, wenn er etwas nicht verstand.

„Eigentlich nicht, nein. Aber wenn es dir unangenehm ist, kann ich mir noch was drüberziehen."

Doch Cas schüttelte nur den Kopf. „Nein, so meinte ich das nicht. Es ist mir in keinster Weise unangenehm, dich so zu sehen." Dean bemerkte, wie er rot wurde und es ärgerte ihn sofort. Er war doch kein lächerliches, kleines Schulmädchen, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen roten Kopf bekam! Aber verdammt, warum musste sich Cas auch so ausdrücken? „Ich wollte nur wissen, welches denn nun die richtige Bekleidung zum Schlafen ist", erklärte der Engel.

„Eigentlich ist es egal, was du anhast. Hauptsache du fühlst dich wohl."

Cas nickte verstehend und einen Wimpernschlag später war seine Oberbekleidung verschwunden. Das Shirt, dass Dean ihm zugeworfen hatte, legte er behutsam neben dem Bett auf den Boden. Dean schluckte kurz und machte Cas dann mit einer Handbewegung deutlich, dass er ihm Platz machen sollte. Der Engel kam Deans Wunsch nach und nach einem kurzen Blinzeln lagen bis auf eine Decke alle ordentlich gefaltet am Bettende. Vorsichtig glitt Dean unter die Decke und stellte gar nicht in Frage, dass Cas nur eine der dutzenden von Decken für sie auf dem Bett gelassen hatte.

„Gute Nacht, Cas."

„Gute Nacht, Dean."

Wenn Engel ihre Tage habenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt