Baum

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Der Tag war schon zu viel für mich. Die Sonne schien, überall lachende Kinder und geschäftiges Treiben. Lieber nahm ich mein Lieblingsbuch, schön in Geschenkpapier eingeschlagen, und verzog mich auf den Baum. Der Baum war etwa 20 Meter hoch, im Stamm aber etwa dreimal ich. An den kleinen Auswüchsen erklomme ich meinen eigenen kleinen Mount Everest und belohnte mich mit stetiger Ruhe in der dicken Baumgabelung. Der Baum war so freundlich und wuchs gerade so, dass mein Gesäß Platz fand und meine Beine auch nicht herunterhingen, sondern sich entspannt in der gegenüberliegenden Gabelung legen konnten.
Gerade jetzt hatte mir das Buch "Percy Jackson - Diebe im Olymp" so sehr zugesagt, dass ich es las, las und dann zerlas. Ja, ich habe dieses Buch gelesen. Ja, der Buchrücken hat so viele Falten. Mehr als deine Großmutter (36).

Ich bin allein. Hier. In diesem Baum. Sitze, lese, lächle. Ich genieße jeden Atemzug. Ich versuche so viel Sauerstoff wie möglich in mich einzusaugen. Ich bin hier. Niemand sieht mich. Niemand wird mich hören. Niemand wird kommen und mich zurechtweisen.

Die Freiheit kommt mir so groß vor. So lang wie die Erde vom Mond entfernt ist. 384.400 km um genau zu sein. Vielleicht auch noch weiter. Weiter aus der Milchstraße raus bis zur nächsten Galaxie. Andromeda. Vielleicht nicht ganz so weit.

Ich schließe die Augen nach wenigen Minuten des Lesens. Ich atme. Ich sehe nur noch schwarz. Ich habe das Nichts vor mir. Je länger ich das Dunkel beobachte, desto stärker sehe ich vor mir tanzende Blitze. Energie.

Die Welt sprüht vor Leben. Energie in jedem Organismus. Tatkräftig, jeden Tag bereit sich weiter zu entwickeln. Energie. Leben. Stille.

Obwohl ich ins Nichts blicke, nehme ich alles um mich herum wahr. Ich spüre jede noch so kleine Erhebung der Rinde meines Baums. Jedes Lüftchen des Windes, das meine Haare durchstreift. Ich höre die Blätter rascheln, angetrieben durch den lauen Wind. Ich lächle. Ich kann Blumen riechen. Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, aber mir ist als könnte ich das Gras wachsen hören.

Hören. Die Schallwellen erreichen mein Ohr, durchwandern den Gehörgang bis zum Trommelfell hin zu den Gehörknöcheln. Mich durchströmen jegliche Neuronen, von Gehirn über etliche Transmitter weitergegeben, nur um mir die Geräusche zu zeigen. Obwohl ich ins Nichts blicke.

Ich soge den Duft des Sommers in mich ein. Blumen. Frisch gemähtes Gras. Leicht modriges Laub unter den Bäumen vom starken Regen vor ein paar Tagen. Ich schmecke den leicht bitteren Geschmack des Gewitters.

Schmecken. Meine Zunge fährt die Innenseite meiner Zähne entlang. Immer noch leicht bitter. Ein Kaugummi wäre nicht schlecht. Doch dieser Geschmack hier fühlt sich real an. Ein Kaugummi verfälscht das Ganze.

Manchmal weiß ich nicht, ob ich lebe. Lebe ich, wenn ich nicht sehe?
Lebe ich, wenn ich nicht höre?
Lebe ich, wenn ich nicht rieche?
Lebe ich, wenn ich nicht schmecke?
Lebe ich, obwohl ich allein bin?

Ich bin allein.
Ich sehe nicht.
Ich höre nicht.
Ich rieche nicht.
Ich schmecke nicht.

Aber ich lebe. Ich atme. Mit jeder neuen Sekunde wachse ich an mir selbst.

Ich denke.

Die Leute würden sagen, dass nichts unmöglich ist. Aber ich mache den ganzen Tag nichts. Nichts anderes. Also haben sie Unrecht. Das Nichts ist kein Nichts. Es ist real. Nichts ist nicht nichts. Sonst würde das Nichts nicht einmal zur Sprache kommen.

Es gibt das Alles. Und es gibt das Nichts. Alles oder Nichts ist falsch. Es gibt kein ODER. Alles UND Nichts. Das Sein ist das Sein und das Nichtsein zugleich.

Alles:
Ich bin.
Du bist.
Es ist.
Wir sind.
Ihr seid.
Sie sind.

Nichts:
Ich bin nicht.
Du bist nicht.
Es ist nicht.
Wir sind nicht.
Ihr seid nicht.
Sie sind nicht.

Alles ist das Nichts und Nichts ist das Alles. Um das zu begreifen, nun, so sitze ich weiterhin in meinem Baum. Lese „Percy Jackson - Diebe im Olymp“. Lächle. Genieße die Stille. Das Alles und das Nichts.
Bin allein.

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trash onlyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt