Trauer

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April erwacht um halb sieben, vom schrillen Alarm ihres Weckers. Einen Moment denkt sie daran, ihn abzustellen und weiterzuschlafen, doch sie ist sich nicht recht sicher, ob ihre Erschöpfung vom Schlafentzug herrührt. April zwingt sich in eine sitzende Haltung und lässt die Beine aus dem Bett baumeln. Ihre Füße berühren kurz den Holzboden; dann spürt sie die Kälte und zieht sie reflexartig wieder zurück.

Wie jeden Morgen seit sie in diesem Haus ist, greift sie unter das Kissen und streicht über die Gesichter ihrer Eltern auf dem Foto. Es ist merkwürdig, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man trauert. Obwohl es ihr noch wie gestern vorkommt, ist es bereits drei Wochen her, seit ihre Schwester und sie ihre Eltern vergraben hatten. Mit dem Handrücken streicht sie sich über die Wange und verstaut das Bild wieder unter dem Kissen.

Sie wirft einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. In der Luft liegt ein kühles Frösteln, dass die Scheibe schlierig erscheinen lässt, nicht gerade typisch für den Spätfrühling, jedoch ein guter Morgen zum Laufen, entscheidet sie und tappt ins Badezimmer. Nachdem sich April die Zähne geputzt hat, wirft sie im Spiegel einen prüfenden Blick auf ihren Körper.

Sie stellt fest, dass trotz dem Hungern der letzten Wochen, ihre Brüste an Umfang nicht abgenommen haben. 85 B. Der Bauch ist flacher geworden und die Schlüsselbeinknochen treten deutlicher hervor als noch vor wenigen Monaten, aber noch sieht sie gesund aus. Ihr Blick wandert weiter nach oben. Die Blässe in ihrem Gesicht würde ihre Müdigkeit verraten, also holt sie aus der linken Schublade die Puderdose hervor und verhilft sich mit dem Kissen zu einem gesunden Hautton.

Auch wenn das Grün ihrer Augen matt und ihr Blick leer ist, scheint als würde die Mascara weiterhelfen. April hatte nie zu den Frauen gehört, die sich etwas auf ihre Schönheit einbildeten, vielleicht aus dem Grund, weil sie sich ihrer Attraktivität gar nicht bewusst ist. Sie empfand weder die hohen Wangenknochen, noch die vollen Lippen jemals als anziehend oder gar schön.

Sie knotet ihr dunkles Haar in einen wilden Dutt und wechselt die knittrigen Schlafklamotten gegen eine dunkle Sport-Hotpan und einen weinroten Hoodie.

April streift sich die Laufschuhe über, und wirft einen Blick über die Schulter bevor sie das Zimmer für eine Weile verlässt. So leise wie möglich durchquert sie den breiten Gang, die Wände voller Gemälde – von Klimt bis Degas, vom Impressionismus über Spät Barock und Pop-Art. Diese Wände sind das einzige im Haus, das ihr gefällt.

Sie nimmt die Marmortreppen, die in eine leichte Kurve im Wohnzimmer enden und betretet die Küche nach der morgendlichen Routine: Ein Glas Wasser, eine Runde Joggen, heiß duschen und eine Tasse Kaffee. Wenn sie sich an diesen Plan hält, denkt sie wenigstens in den frühen Morgenstunden nicht an ihre Eltern. Doch ihr geplanter Morgen schwindet als sie dieselbe Küche betritt, die wie der Rest der Wohnung mit Boden und frisch geschrubbten Theken um die Wette strahlt, und sie jemanden an der Theke stehen sieht.

Wissend dass es vermutlich tausend bessere Arten einen Fremden zu begrüßen gibt, kommen ihr jedoch nur die Worte „Wer zur Hölle sind Sie?" über die Lippen.

Der junge Mann verharrt mit der Tasse auf dem halben Weg zum Mund und wirft ihr einen irritierten Blick über den Rand zu.

Er trägt eine schwarze Jogginghose, und ein weißes Shirt, welches sich über die muskulöse Brust und die trainierten Oberarme spannt und dunkle Flecken an Achseln und Brust aufweist.

„Emmett."

April wartet auf irgendwelche anderen Aussagen, aber er wendet den Blick ab und scheint vollkommen mit der richtigen Haltung beim Kaffeetrinken beschäftigt zu sein. Sie starrt ihn einen kurzen Augenblick lang an, fasziniert über die Tatsache, dass der Mann gut aussieht und zutiefst verstört darüber, dass er alles durcheinandergebracht hat. Während sie sich umdreht und das Haus verlässt, ohne auch nur ein Schluck Wasser zu genießen, hört sie bereits die Gedanken an ihre verstorbenen Eltern, die wie Parasiten in ihren Kopf eintauchen und sich dort festsetzen, als wäre es das Normalste der Welt.

Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt