Wer

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Sinan war - wie ich - mittlerweile schon ganze sechs Jahre alt und ehrlich gesagt, war er ein sehr hübscher Junge geworden. Seine braunen, wuscheligen Haare und die gelbgrünen Augen ergänzten sich perfekt und durch sein rundes Gesicht und seine kleinen Ohren sah er dennoch unglaublich niedlich aus.

Ich lief trotzig hinter ihm her, wissend, dass er mich niemals bemerken konnte und musste des Öfteren seinem schusseligen Freund Fabian ausweichen, den er schon seit dem Kindergarten kannte.

Denn wenn ich ihn berühren würde, durchzöge ein stechender Schmerz, der von meinen fesselnden Armbändern ausgelöst werden würde, meinen gesamten Körper. Ich verfluchte mich dafür, als Schutzengel geboren zu sein, weil ich meinen Jungen nie anfassen durfte. Er konnte mich nicht sehen und lediglich meine Berührungen spüren, aber da mir das verboten war, würde dies wohl auch nie in Erfüllung gehen. Er hat nie gewusst, dass es überhaupt Engel gab, weil sie für die Menschen nur in Märchen und Gedichten existierten.

Doch ich war wirklich wichtig für Sinan. Ich musste mit meinen Kräften, seine Gefahren zurückschlagen, damit er nichts Schlimmes erlitt, denn sonst überträge sich der Schmerz stets auch auf mich. Wenn er sich also den Kopf stoßen würde, ertrage ich ebenfalls sein Leid, aber nehme ihm dadurch ein wenig Schmerz ab.

Ich konzentrierte mich wieder auf den grauen Asphalt, wo einige grüne Pflanzen aus den Rillen zwischen den Steinen sprossen. Meine weißen Federflügel schliffen schlapp hinter mir auf dem Boden und wurden an den Spitzen leicht dreckig von der getrockneten Erde.

Eine kindliche Stimme ertönte freudig: "Lass uns auf die Schaukel da drüben gehen, Fabian!" Sinan zeigte aufgeregt auf ein Gerüst und rannte mit seinem Freund hektisch zu diesem.

Ich lief den Beiden ebenfalls mit etwas Abstand hinterher und auch mich packte die unbändige Freude. Zu gern hätte ich mich auf die dritte Schaukel geschmissen und riskante Tricks währenddessen gemacht, um Sinan zu beeindrucken. Diese Rolle übernahm jedoch Fabian, der wild nach vorne und hinten schaukelte und sich dabei auf die wackeligen Beine stellte, bevor er sich drehte. Der Braunhaarige war davon wohl sehr begeistert, denn auch er nahm an Fahrt auf und stellte sich zögernd hin.

Ich sah kurz weg, doch schon im nächsten Moment durchzog ein stumpfer Schmerz mein Steißbein. Ich drehte mich mit zusammengekniffenen Zähnen um und erblickte Sinan, der weinend auf dem Boden vor der Schaukel saß, die noch einmal leicht gegen seinen Rücken prallte. Mein Mitgefühl packte mich und ich lief schnell zu ihm, doch bevor ich ihn in meine Arme schließen konnte, erlitt ich eine gefühlte Höllenqual, die meine Bewegungen komplett lähmte. Ich sackte vor ihm auf den Grund und musste mit ansehen, dass er tröstend von Fabian umarmt wurde.

In diesem Moment fühlte ich mich mehr als unnütz und fehl am Platz. Durch Abstützen wurde dem Blondschopf aufgeholfen und er schniefte noch einmal traurig, bevor die beiden den Spielplatz wieder kichernd verließen. Mit Schmerzen setzte ich mich auf und folgte geknickt ihrem Beispiel, sodass ich Sinan nicht aus den Augen verlieren konnte.

Ich wünschte, ich könnte irgendwann mit ihm lachen, so wie er es mit Fabian immer tat.

dandelionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt