Blick

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[TW: Suicide Attempt]

In den nächsten zwei Wochen lief so ziemlich alles schief, was hätte schief laufen können. Der Mietvertrag würde bald gekündet werden, Luca zog aufgrund der stets schlechten Laune seines Mitbewohners einfach aus, sodass nun auch diese Last an Sinan hing und er hatte tiefer geschnitten. Fast zu tief, aber es machte ihm nichts aus, selbst wenn er beinahe umkippte. War es das, was er wollte? Leiden? Sterben? Alles deutete darauf hin und ich verstand es auch in gewissermaßen, aber ich konnte es nicht zulassen, nicht mit meinem Gewissen ausmachen. Ich würde es irgendwann verhindern, falls es dazu kommt.

Vor einer gefühlten Ewigkeit quälte sich Sinan aus dem Bett und stand kurz sehr nachdenklich mitten im Raum. Dann griff er entschlossen nach einer Vase und warf sie einfach über sich ihn die Luft, ohne die Anzeichen zu machen, sie wieder fangen zu wollen. Ich reagierte jedoch schneller und drückte die Vase ein bisschen nach hinten, damit sie auf dem Teppichboden zerschellte. Fluchend wollte er auf eine Scherbe treten, aber auch das konnte ich verhindern, indem ich seinen Fuß ein bisschen weiter nach rechts steuerte, wo alles sauber war. "Wieso läuft immer alles so perfekt?", fluchte er und raufte sich total am Ende mit den Nerven die Haare. Ich machte doch alles richtig oder?

Entschlossen ging Sinan in den Flur und suchte die Treppe auf, die auf das Dach des Hochhauses führte. Ich ahnte Schlimmes. Oben angekommen kletterte er stumm über das Sicherheitsgeländer. Niemand war da, der ihm helfen konnte. Nicht einmal ich, denn einen Selbstmord, der aus eigenem Entschluss entstand, durften Schutzengel nicht verhindern. Er stellte sich rückwärts an den Rand und hielt sich nur noch mir der rechten Hand fest. Laut brüllte er in die leere Dunkelheit: "Ich brauche und habe keinen Schutzengel!"

Nach kurzer Unsicherheit ließ er sich sorglos und leise fallen. Er entfernte nur seine Finger und doch veränderte das alles. Meine Gefühle zerrissen sich gegenseitig, aber eines siegte maßlos. Liebe. Unendliche Liebe, die ich schon seit Jahren empfunden hatte. Ich sprang meinem persönlichen Schützling hinterher und versuchte mit der Hilfe meiner Flügel näher zu ihm zu gelangen, was sich als erfolgreich herausstellte.

Ich breitete meine Arme aus und schon blitzte der unbeschreiblich Schmerz durch meinen gesamten Körper, als meine Arme seinen zierlichen Körper umschlungen. Er riss geschockt die Augen auf und starrte mich total gefangen an. War es wahr? Konnte er mich endlich sehen? Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, bevor jedoch eine Welle von stechendem Leid meinen Körper durchströmte, die ich noch nie gespürt hatte. Alles in mir sehnte sich danach, diesen Jungen loszulassen, doch ich klammerte mich an ihn, als wäre er mein einziger Halt, obwohl dies eigentlich genau andersherum war.

Mit letzter Kraft schaffte ich es, mich nach unten zu drehen, sodass er nun über mir lag und ich meine Flügel schützend über ihn legen konnte. Direkt im nächsten Moment fühlte ich den unerträglichen Todesschmerz des Aufpralls und ich spürte, wie meine Kräfte nach und nach verschwanden. Ich erkannte schwach, die Tränen in den Augen meines Jungen, bevor er mir sanft über die Wange strich. Im nächsten Moment sah ich nichts mehr, fühlte nichts mehr und hörte nur noch einen Satz, den ich mir sehnlichst vor dem Tod gewünscht hatte:

"Ich habe meinen Schutzengel verloren, wie ich es immer wollte, doch jetzt will ich dich zurück. Nicht weil ich Angst vor Unfällen habe, sondern weil ich dich tatsächlich liebe."

Ich wünschte, er hätte mehr Zeit mit mir verbringen können.

dandelionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt