Sehnsucht

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Als Neel und Clara ein weiteres Mal das Gelände des Forts überquerten, kamen sie an einer Menschentraube vorbei.
Ein Mann Mitte 40 stieg in einen Helikopter ein, während weitere Männer das Gepäck in die Maschine packten.
"Wer ist der Mann?", fragte Clara Neel.
"Arnar Arnarsón. Er soll als Aufsichtsperson nach Island geschickt werden. Dort soll es einen jungen Para mit empfindlichen Sinnen geben.", antwortete eine ältere Dame, die sich in das Gespräch der beiden Jugendlichen eingemischt hatte.
"Dana Wladimirowna Titowa ist mein Name. Ich glaube dich kenne ich noch gar nicht. " Sie deutete auf den Para.
"Ja, ich bin neu hier. Clara Dupin. "
"Interessant.", sie widmete sich erneut dem Geschehen vor ihr und ignorierte die beiden.
"Ähm, okay?" Clara schien verwirrt. Die Frau hatte sich einfach in ihr Gespräch eingemischt und dann sehr schnell das Interesse verloren.
Clara kam zu dem Schluss, dass die Normen der Höflichkeit hier im Fort keine ganz so große Rolle spielten, wie in der restlichen Gesellschaft.
Ob es nun an der isolierten Lage oder daran, dass Paras sich häufig abkapselten, konnte Clara nicht sagen.
Aber ihr gefiel ein aufrichtiges Miteinander besser als geheuchelte Höflichkeit.
"Mrs Titowa ist schon okay.", erläuterte Neel, als sie sich ihren Weg wieder durch die Menschenmenge bahnten. "Sie ist manchmal etwas seltsam, aber ich glaube bei dem Job muss sie das auch sein."
"Wieso? Was meinst du?"
"Sie unterrichtet den Kurs Überleben-In-Der-Wildnis. Dazu kommt noch, dass sie die Fähigkeit hat Stimmen perfekt zu imitieren, sogar Tierlaute und so was. Das ist manchmal ein bisschen gruselig, aber man gewöhnt sich dran."
"Gruselig, aber man gewöhnt sich dran? Das klingt ja fast nach mir!" Ein junger Mann, der vom Aussehen her eher südländisch wirkte, bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge direkt auf die Beiden zu.
"Nicholás!", Neel verdrehte die Augen. "Solltest du nicht vor deinem Computer sitzen?"
"Sollte ich wohl, ja. Aber ich habe gehört, du führst einen hübschen Neuling hier herum und ich hatte so ein Gefühl, dass du bei mir nicht vorbeischauen würdest, Blue."
"Nenn mich nicht so." Neel wirkte gleichzeitig verärgert und traurig.
"Nicholás Sanchez.", stellte er sich vor. "Ich bin hier der Computerexperte."
"Das klingt, als ob du hier etwas Legales machen würdest. Erzähl doch gleich, dass du ein Hacker bist." Neel schien diesen Kerl wirklich nicht besonders zu mögen.
"Wenigstens tue ich etwas Sinnvolles für ATLAS. Ich bin ein Para, da kann ich immerhin meine Fähigkeiten dieser Organisation anbieten. Was du hier machst ist mir noch unbegreiflich. Du konntest diesen jungen Para ja noch nicht einmal beschützen. " Anscheinend sprachen sich solche Dinge hier schnell herum.
Neel schnaubte und Clara musste keine Gedanken lesen können, um zu wissen, dass er sich unwohl fühlte. Sie nickte in Neels Richtung. Dann warf sie Nicholás einen vernichtenden Blick zu.
"Ich hab doch Recht!", entgegnete dieser brüskiert. Die beiden ließen Nicholás stehen.
"Nein, hast du nicht!", rief sie zurück.
Die beiden jungen Menschen liefen eine Weile in eine bestimmte Richtung, bis Neel scheinbar willkürlich eine andere einschlug.
Nach einer Weile kam Clara der Gedanke, dass er kein bestimmtes Ziel hatte, sondern eher nach einen Weg suchte, sich abzureagieren.
Er bahnte sich seinen Weg an den Menschen vorbei, aber keiner schien sich für die beiden zu interessieren; sie beobachteten wie die Rotorenblätter des Helikopters sich zu drehen begannen und dann immer schneller wurden.
Clara zog in Betracht, Neel allein zu lassen. Manche Menschen brauchten Einsamkeit, wenn sie emotional aufgewühlt waren, aber Claras Instinkt riet ihr, bei ihm zu bleiben.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie das Gelände von ATLAS verließen. Das Gebirge Ozarks sah man von überall, aber erst nachdem sie das Lager verlassen hatten, wurde ihr klar, wie riesig die Berge wirklich waren. Die Natur sah hier draußen völlig unberührt aus.
Sie durchliefen einen gewaltigen Wald, der in den Farben des Herbstes strahlte. Die Oktobersonne schien durch das bunte Laub und eine seichte Brise ließ die Blätter rascheln.
Es knisterte, als Clara und Neel einem abgetretenen Pfad folgten. Der junge Para war in Gedanken versunken, sodass sie gar nicht sofort bemerkte, dass ihr Begleiter stehen geblieben war.
Er stand auf einem einem Felsplateau und blickte in ein Tal hinab. Auch dort waren weit und breit nur Bäume zu sehen. Nur ein Fluss durchzog das Tal. "Der Osage River." erklärte Neel.
"Wir haben als Kinder immer in den Wäldern gespielt, Nicholás und ich."
Clara beobachtete Neel interessiert, er mied ihren Blick und setzte sich. Das Mädchen setzte sich neben ihn.
"Wir waren eine Zeit lang gute Freunde, weil er der Einzige war, der in meinem Alter war. Wenn man auf engsten Raum mit so vielen Erwachsenen zusammenlebt, sucht man sich früher oder später jemanden mit dem man seine Zeit verbringen kann. "
Er spielte mit einem Zweig.
"Nicholás spielte anderen Leuten besonders gerne Streiche. Seine Fähigkeit ist es, elektromagnetische Felder manipulieren zu können. Deswegen kann er auch so gut mit Computern umgehen. Manchmal wenn Touristen hier in der Gegend wandern waren, hat er dafür gesorgt, dass ihre Smartphones verrückt spielen." Er lächelte, aber sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich schnell.
"Aber eines Tages hat er es übertrieben. Wir waren an der alten Waldstraße und einer der Touristen schien sich verfahren zu haben. Nicholás hat sein Navigationsgerät manipuliert. Er wollte eigentlich nichts Böses, aber der Fahrer kam von der Straße ab. Er war verletzt und bewegte sich nicht mehr. Nicholás wollte ihm helfen, aber wir waren beide noch so jung und hatten keine Ahnung, was wir tun sollten. Ich wollte Mr Cummingfield um Hilfe bitten, aber Nicholás wollte mich unbedingt davon abhalten. Er wollte nicht, dass jemand davon erfährt, was er getan hat." Neel wirkte jetzt verzweifelt, auch wenn er es sich nicht ansehen lassen wollte.
"Aber ich konnte den Mann doch nicht einfach dort liegenlassen. Ein Krankenwagen brauchte auch mindestens 2 Stunden ehe er aus der nächsten Stadt gekommen wäre. Also habe ich doch Mr Cummingfield geholt. Er hat mir geholfen den Mann zu versorgen und hat ihn in ein Krankenhaus gefahren. Nicholás scheint mich seitdem zu hassen."
Neel zerbrach den Zweig.
"Er wirft mir immer vor, wie unnütz ich doch sei und dass ich nur wegen meiner Eltern hier wäre und so... Manchmal glaube ich, er hat recht. Ich meine, ich bin eigentlich dein Beschützer und trotzdem habe ich fast zugelassen, dass du entführt wirst."
Als Neel mit seiner Geschichte endete, musste Clara unwillkürlich anfangen zu lachen.
"Was ist daran so witzig?", entgegnet dieser verletzt und wütend.
"Du bist eifersüchtig auf mich? Mein ganzes Leben wünsche ich mir nichts anderes als ein gewöhnliches Leben. Ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Und, du Glücklicher, hast all das, was für mich niemals möglich sein wird. Aber dennoch wünschst du dir, zu besitzen, was ich an mir selbst verfluche."
Clara schnitt eine Grimasse.
"Genau das ist der Grund, warum ich lache; weil das Schicksal bestimmt auch gerade über uns lacht."
Jetzt war es an Neel zu aufzulachen.
"Wie kann man nur solche fantastischen Kräfte nur loswerden wollen?"
"Das geschieht, wenn sie dafür sorgen, dass andere Menschen verletzt werden. Glaub mir, dann ist man nicht mehr so scharf darauf."
Die Jugendliche mied den Blickkontakt zu Neel.
"Jeder Mensch kommt irgendwann einmal an den Punkt, an dem er feststellt, dass er die Macht hat, andere Menschen zu verletzen. Das jagt allen erst einmal eine Heidenangst ein, aber irgendwann stellen sie fest, dass nicht das zählt was wir können. " Neel blickte auf den Boden. "Was wirklich zählt ist, wozu wir unsere Fähigkeiten einsetzen. Und solange deine Absichten gut sind, wirst du auch niemanden ernsthaft verletzen."
Jetzt sah Neel seinen Gesprächspartner direkt an und sie erwiderte seinen Blick. Blaue Augen trafen auf braune.
"Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht."
"Doch, ich weiß genau dass du Gut-Böse-Gut bist." Der ernste Ausdruck wich aus Neels Gesicht.
Sie lachte. "Was?"
"Natürlich. Es gibt da nicht viele Optionen, man kann Böse-Böse, Böse-Gut, Gut-Böse und Gut-Gut sein. Und nur wenn du wirklich Böse-Böse bist, müsstest du dir ernsthafte Sorgen machen." Er unterdrückte ein Lächeln.
"Heilige Johanna, jetzt habe ich auch noch die einzige Aufsichtsperson erwischt, die nicht mehr alle Blätter am Baum hat!" Clara knuffte ihn lachend.
Und plötzlich wurde ihr auch klar, warum ihr Instinkt ihr geraten hatte, ihn nicht allein zu lassen.


World of Mystic Special - ClaraWhere stories live. Discover now