Das Fort

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Ihr Leben lang hatte Clara in Domrémy-la-Pucelle verbracht. Nur um zur Schule zu fahren, fuhr sie mit dem Bus in die nächst größere Stadt.
Aber als sie das Fort betrat war es, als ob dort die ganze Welt leben würde. Menschen, aus aller Herren Länder tummelten sich. Paras, die ausgebildet wurden oder ausbilden wollten.
Die Jugendliche musste viele Hände schütteln und sie konnte sich nicht erinnern, wie oft sie gesagt hatte: "Hello, my name is Clara Dupin and I have the skill of telepathy. I hope somebody will help me. Nice to meet you."
Ihr Englisch war eher schlecht als recht und sie wünschte sich inständig, sie hätte damals im Unterricht besser aufgepasst.
Englisch war die Sprache, die hier im Fort alle verband.
Da war zum Beispiel dieser junge Norweger, der stolz darauf war Axtkampf unterrichten zu dürfen. Er erzählte dem jungen Para, dass dies sein erstes Jahr als Trainer war und dass er zuvor auch nur Schüler war. Kristoff Sandberg, wie er hieß, hatte man gefunden, als er durch die Luft geschwebt ist und die Piloten einer Flugmaschine erschreckt hat.
ATLAS hat dann beschlossen ihn unter seine Fittiche zu nehmen, einerseits um ihn zu lehren, wie er seine Fähigkeiten kontrollieren kann, andererseits aber auch um ihn zu klarzumachen, dass man als Para einer Verantwortung unterlag.
Denn Geheimhaltung war eine der wichtigsten Regeln, an die sich hier jeder halten musste. Soweit Clara das mitbekommen hatte, wusste die Regierung zwar von ATLAS, aber nicht von ihrem Standort.
"Und das ist auch gut so.", erklärte der Leiter von ATLAS, Chang Ming-Hui.
"Die Regierung ist nicht besonders begeistert von uns. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns ernst genug nehmen, um uns militärisch anzugreifen, aber wir wollen es auch nicht wirklich darauf anlegen."
Der alte Taiwanese hatte dem jungen Para zuvor erzählt, dass es seine Fähigkeit war, andere Paras aufzuspüren und war danach dazu übergegangen, mehr über ATLAS zu erzählen.
Clara hörte nur mit halben Ohr zu. Sie wusste nicht so recht, was sie von dieser geheimnisvollen Organisation halten sollte, wenn nicht einmal die Regierung ihr traute.
Sie nickte, aber im Kopf ging sie schon Fluchtpläne durch, einer gefährlicher als der andere.
Erst als so aus der Kommandozentrale heraustrat und Neels freundliches Gesicht sah, dachte sie darüber nach, dass ATLAS wohl nicht von Grund auf schlecht sein konnte.
Er hatte sie zwar am Anfang etwas überfallen, aber während des Fluges waren sie ins Gespräch gekommen und sie hatte festgestellt, dass er sehr nett war. Unter anderen hatte sich auch erfahren, dass Neel selbst kein Para war, was hier im Fort wohl eher die Ausnahme war.
Zudem begegnete er ihr immer wieder mit frappierender Ehrlichkeit, wie sie es noch bei keinem Menschen erlebt hatte.
Er stellte ihr sogar seine Eltern vor, Mr Satyendra Jariwan und seine Frau Sumati. Die drei Jariwans stammten aus der Stadt Thiruvananthapuram, dessen Namen Clara vergaß, sobald sie ihn gehört hatte.
Mr Jariwan erzählte, dass er seit 25 Jahren für ATLAS als Nahkampflehrer arbeite und das er ihnen aufgefallen war, wegen seiner übermenschlichen Stärke.
"Jetzt erzähl doch nicht die ganze Zeit nur über dich, Satyendra!" Mrs Jariwan lachte.
"Ich sollte mich doch vorstellen, oder etwa nicht?", empörte sich Mr Jariwan gespielt.
"Vorstellen ja, aber du musst ihr doch nicht deine gesamte Lebensgeschichte erzählen." Mrs Jariwan hob eine Augenbraue.
"Es ist schon gut, ich freue mich ihnen zuhören zu dürfen.", warf Clara kleinlaut ein.
"Sie will nur höflich sein.", mischte sich Neel ein.
Clara warf ihm einen wütenden Blick zu.
"Was denn? Ist doch so." Er grinste.
"Ich würde wahnsinnig gern noch weiter mit dir plaudern, aber ich glaube, ich muss los. Ich muss das Mittagessen noch vorbereiten."
Mrs Jariwan seufzte. "Wenn nur nicht immer alle herummäkeln würden, wäre alles viel einfacher.
Ich mag kein Gemüse!
Das Essen ist zu scharf!
Ich will Kuhfleisch!"
Sumati imitierte die Stimmen diverser Bewohner des Forts und brabbelte auch noch vor sich hin, als sie das Haus verließ.
"Meine Mutter beherrscht Kryokinese.", erklärte Neel. "Sie kann Temperaturen nur mit ihren Gedanken regulieren und so hat sie sich auch freiwillig dafür gemeldet in der Küche zu arbeiten."
Mr Jariwan warf einen Blick auf die Uhr.
"Entschuldigt mich, Kinder. Ich muss auch langsam zum Unterricht." Mr Jariwan verließ nun ebenfalls eilig das kleine Haus.
Das Gespräch verlief kürzer als erwartet. So viel Stress war Clara von zu Hause nicht gewöhnt.
"Tja, das waren meine Eltern. Ziemlich schräg, hm?" Neel kratzte sich am Hinterkopf.
"Geht so. Meine Eltern sind auch nicht viel besser. Nur haben sie eben keine... Fähigkeiten."
Neel schnaubte.
"Komm, wir sollten weitergehen."
Clara war verwundert über Neels Reaktion, aber sie folgte ihm.
Dabei traf Clara auf Sangmo Dawa. Sie erzählte, dass sie aus Lhasa kam und dort als tibetanische Nonne umhergezogen war. Sie erklärte, dass sie die Paras in einer Art des Baguazhang ausbildete, eine Kampftechnik, die nur auf Abwehr baute und den Angriffen des Gegners solange auswich, bis dieser erschöpft aufgab.
"Eine der wenigen Kampftechniken, die mit den pazifistischen Ideologien des Buddhismus übereinkommen kann.", erklärte sie. "Aber meine eigentliche Fähigkeit, ist eine andere."
Sie schlug mit der Handseite auf Neels Arm, bevor dieser auch nur irgendwie reagieren konnte. Er schrie empört auf.
"Sangmo!" Seine Arm baumelte wie Gummi an seinem Körper. Er schien sämtliche Kontrolle über seine Armmuskulatur verloren zu haben.
"Ich habe sein Chi blockiert. Oder seine Lebensenergie, wie ihr Westeners es vielleicht sagen würdet."
"Das ist unfair! Du weißt genau das ich mich nicht wehren kann!", mokierte sich Neel.
"Der Effekt verschwindet nach ein paar Minuten wieder." Sie erzählte das alles in ernsten Ton, aber Clara konnte genau erkennen, dass die Augen der Nonne lächelten.
Ihr Blick wurde wieder trauriger, als sie von ihrer Heimat erzählte. Tibet stand seit einigen Jahrzehnten unter der Einfluss Chinas und wurde von der chinesischen Regierung unterdrückt. Einige der friedlichen Mönche steckten sich sogar selbst in Brand, um gegen die Gewaltherrschaft der Chinesen zu demonstrieren.
Als sie davon erzählte, schüttelte Sangmo traurig den Kopf.
"Aber der Dalai Lama weiß auch nicht, wie er darauf reagieren soll. Im Buddhismus ist Selbstmord nicht gern gesehen, aber was sollen die Familien der Betroffenen denn sagen, wenn er diese Selbstverbrennungen zu scharf kritisiert?"
Sie seufzte.
"Das tut mir aufrichtig Leid." Clara fühlte sich ehrlich betroffen. "Kann ATLAS da gar nichts machen?"
Sangmo schüttelte den Kopf.
"Sie dürfen sich nicht in Regierungsangelegenheiten anderer Länder einmischen. Schon gar nicht in die, eines so mächtigen Landes wie China."
"Das ist ungerecht."
"Ja, ich weiß. Aber ich bin sicher, eines Tages werden wir in Freiheit leben dürfen." Sangmo lächelte.
"Wie kannst du dir da so sicher sein?", entgegnete Clara verwundert.
"Wie kann ich mir denn da nicht sicher sein?", entgegnete Sangmo mit fester Überzeugung.
Clara warf ihr noch immer einen zweifelnden Blick zu, lächelte aber schließlich.
"Wahrscheinlich hast du Recht." Spontan umarmte sie die junge Frau, die etwas überrascht, aber erfreut war.
"Verliere niemals die Hoffnung!", wünschte Clara der Tibeterin.
"Finde sie!", konterte Sangmo.
"Tschüss, Sangmo!", warf Neel ein, der sich etwas unwohl zu fühlen schien.
Sangmo winkte noch kurz zu Abschied, während Neel mit Clara im Schlepptau das Übungsgelände wieder verließ.

Die anderen Treffen mit den Trainern waren selten so lang.
Clara lernte die junge Firth Coulson lernen, die Lehrerin für Fernkampf, die ihr Ziel niemals verfehlte. Die Schottin war sehr ruppig und schien nicht besonders erfreut, gestört zu werden. Und so wurde es ein recht kurzer Besuch.
Die Ärztin Noa Rothschild war zwar sehr freundlich, aber ziemlich beschäftigt. Sie heilte gerade einen anderen Trainer per Handauflegen.
Ein Speer hatte kurz zuvor noch aus dem Bein des Lehrer geragt, welchen er selbst mit einem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck herausgezogen hatte. Dabei schien der Mann manchmal zu flackern; mal war er zu sehen und mal wieder nicht.
"Sami Ahmed Ismail. Speerkampflehrer, wie man sicher unschwer erkennen kann.", erklärte er mit einem schiefen Grinsen. "In Stresssituationen habe ich meine Fähigkeit nicht immer unter Kontrolle."
Er flackerte erneut. "Unsichtbarkeit.", erklärte er. "Ist meistens ziemlich praktisch. Aber keine gute Idee, wenn jemand gerade Speerwurf übt und nicht sieht, wie er seinen eigenen Lehrer abschießt."
Dr Rothschild betrachtete ihn tadelnd. "Das hättest du aber eigentlich auch voraussehen können, oder?"
Mr Ismail grinste nur.

World of Mystic Special - ClaraWhere stories live. Discover now