Unseen

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Der Donnergroll war ohrenbetäubend. Direkt darauf fing es schlagartig an zu regnen. Ströme von Wasser stürzten auf die Dächer und auf die verlassene Gasse. Der zuvor rote Staub verwandelte sich in braunen Schlamm und einzelne Rinnsale, die schnell zu Bächen wurden, flossen die Straße hinunter. Ich suchte Schutz unter einem kleinen Vordach und ließ mich neben einer Mülltonne nieder. Ich hörte dem Regen zu, wie er erst an die Fenster der Leute klopfte, dann hämmerte. Mit der Zeit drehte der Wind und trieb mir die Regentropfen ins Gesicht. Wie Tränen liefen sie meine Wangen herunter, verklebten meine Wimpern. Meine einfache Kleidung wurde durchnässt und haftete an meiner ebenso nassen Haut. Ich fror, doch die Kälte war einer meiner treuen Begleiter. Einer meiner wenigen Begleiter überhaupt, denn ich war eine Nachtsträhne, ich war allein.

Der Regen ließ von Zeit zu Zeit nach und die Sonne schob die Wolken etwas beiseite. Nach und nach füllte sich die Straße wieder mit Menschen. Vor allem auf dem Platz, der an die Gasse hier anschloss, versammelten sich nun einige von ihnen. Ich beobachtete die Leute auf dem Platz häufig, ich mochte es zu beobachten. Vielleicht, weil es auch das einzige war, was ich machen konnte unter meinen Umständen. Als Nachtsträhne. Die Menschen sahen mich weder, noch konnten sie mich irgendwie anderweitig wahrnehmen. Sie konnten nicht, oder sie wollten nicht, das wusste ich nicht. Eins stand fest: Sie taten es nicht. Egal wo ich hinging, niemand begrüßte oder verabschiedete mich, ich war unsichtbar. Manch einer von ihnen wäre vielleicht gerne einmal unsichtbar, doch was würde ich dafür geben auch nur einen Tag, ein paar Stunden da zu sein. Zu sein. Zu existieren, nicht nur für mich allein, sondern auch für andere. Ich hatte Menschen oft von etwas reden hören, das sich Liebe nannte. Ich wusste nicht, was das ist. Ich hatte ein Gefühl der Heimat für diesen Platz hier entwickelt, nahm Sonnenstrahlen, Blumenduft, meine wunderschöne, staubige Gasse hier mit offenen Armen in Empfang, erfreute mich an ihnen, aber Liebe zu einem Menschen, wie ich es manchmal hörte, hatte ich noch nie erlebt.

Wie oft um etwa diese Uhrzeit, spazierte ich auf dem Platz umher und lief durch die Menschenmenge. Ich schaute die farbenfrohen Blumen an, die vor Kurzem erst angepflanzt worden waren, aber nun etwas mitgenommmen vom Regen aussahen. Trotzdem strahlten sie im Sonnenlicht in den prachtvollsten und unterschiedlichsten Farben. Dunkles rot, wie ein Sonnenuntergang im Winter, leuchtendes Gelb, wie die Sonne selbst, frohes viollett, zartes weiß, sattes rosa. Zusammen ergab sich eine Komposition aus einzelnen Nuancen, ein Sonett, Ton in Ton. Ich ließ mich am Rand des Brunnens, der in der Mitte des Marktplatzes stand, nieder und ließ meine Füße im kühlen Wasser baumeln. Das Wasser schlug lustige Wellen, die mein Spiegelbild auf seltsame Art und Weise verzerrten. Eine Weile noch lauschte ich dem Plätschern des Brunnens, dann stand ich auf und stellte mich auf den Rand des Brunnens. Ich balancierte um den Brunnen herum, baute kleine Hüpfer ein.

Recht in der Nähe hatte ein Musiker Stellung bezogen und spielte auf seiner Gitarre. Ich trat ein paar Schritte heran, begann mich zu drehen, im Rhythmus setzte ich einen Schritt neben den anderen. Ich begann zu tanzen. Mir machte es nichts aus, dass das sonst niemand tat, eine der wenigen Sachen, die gut daran waren, nicht gesehen zu werden. Ich konnte so ziehmlich alles tun und lassen, was ich wollte, weil es niemanden interessierte, geschweigedenn störte, da mich eben niemand überhaupt wahrnahm, wo ja wieder das Problem des Ganzen lag. Ich verlagerte mein Gewicht auf den rechten Fuß, tippte mit dem linken Fuß den Boden an, sprang nach vorne, nach hinten, drehte mich, spürte, wie Note für Note durch meine Adern floss, Schlag für Schlag mein Herz mitschlug. Die Leute nannten das Gefühl Freiheit, wenn ich mich nicht irrte. Mein Kopf schaltete sich aus, meine Muskeln arbeiteten von ganz alleine. Ich wandte meinen Kopf zur Sonne und genoss, wie ihre Strahlen mein Gesicht streichelten.

Langsam jedoch wurden meine Füße müde und ich beschloss zurückzukehren in ihn meine vertraute Gasse. Der Platz war schon ziehmlich voll und vor allem um den Musiker, zu dessen Musik ich getanzt hatte, standen viele Leute. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge. Plötzlich ertönte neben mir eine Stimme: "Hey! Kannst du nicht aufpassen?!". Wie vom Donner gerührt stand ich noch ein oder zwei Sekunden da, dann ergriff ich ruckartig die Flucht. Ich rannte, wie noch nie in meinem Leben.

Sofort als ich die Gasse betrat, ließ ich mich hinter dem Mülleimer von vorhin fallen. Mein Puls raste und mein Atem ging wahnsinnig schnell, doch mit der Zeit fiel die Anspannung von mir ab, und langsam legte sich meine Herzfrequenz und ich atmete flacher. Erst jetzt begriff ich, wieso ich so erschrocken weggerannt war. Er hatte mich gesehen. Wirklich wahrgenommen, sogar mit mir geredet, wenn auch nichts Nettes. Die Szene hatte sich in mein Hirn gebrannt und spielte sich nun immer und immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Wie gewohnt lief ich durch die Menge, stieß dabei ausversehen einen jungen Mann an. Sonst bemerkte das niemand. Er drehte sich wie im Zeitlupe um, wobei seine dunkelblonden Locken lustig tanzten. Seine grünen Augen musterten mich gereizt. Sein Mund öffnete sich, als er mir die fünf Worte entgegenrief. Ich zuckte, er schaute mich irritiert an, weil ich ihn schon viel zu lange anstarrte. Dann setzte ich mich ruckartig in Bewegung. Das ganze hatte nicht einmal eine Minute gedauert und doch hatte es sich viel länger, so bedeutungsvoll angefühlt.

Ich stemmte mich auf die Beine. Trat an den Rand der Gasse und beobachtete das Treiben auf dem Marktplatz, so wie immer. Nur, dass ich diesmal ein Ziel hatte: Ihn zu finden. Meine Augen wanderten über die Menschenmasse, die mir auf einmal so unwichtig erschien.
Da! Er stand am Brunnen und schien auf jemandem zu warten. Vorsichtig bewegte ich mich auf ihn zu. Ich war schon sehr nah an ihm dran, wollte rufen doch hatte einen Kloß im Hals. Noch näher lief ich also an den Brunnen heran. Er schaute in meine Richtung! Ich fuchtelte wie wild mit dem Armen, doch er bemerkte mich nicht. Schließlich stand ich nur noch knappe zwei Meter von ihm entfernt. "Hallo", krächzte ich, doch immernoch sah und hörte er mich nicht. "Du da, im blauen Shirt", kam es nun etwas sicherer und lauter von mir, aber er ignorierte mich immernoch. Ich trat nun ganz nah an ihn heran. Atmete seinen Geruch ein und mein Herz blieb stehen. Ich tippte ihn an. Er fuhr herum. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Doch dann lief er an mir vorbei, einer anderen Person entgegen. Er hatte mich nicht bemerkt.

Eine Träne schob sich auf meine Wange. Erschöpft ließ mich am Brunnen hinabgleiten und schlang die Arme um meine Beine. Aus der einem Träne wurden schnell mehrere. Ich schluchzte und schniefte in mein Oberteil. Ich bebte, denn mein Atem war unruhig. Wie hatte ich nur so naiv sein können?! Ich war eine Nachtsträhne, ein Nichts.

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