Nachtsträhne

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Tropfen für Tropfen versickerte die Sonne am Horizont wie flüssiges Gold und wurde von der nächtlichen dunklen Masse, die von Sternen zersetzt war, verdrängt. Die glitzernde Oberfläche des Vollmondes schien auf die verlassene Lichtung. Sachte striff der Wind die Baumwipfel, die daraufhin gemeinsam wankten.

Aus der Erde wuchsen elfenhafte Wesen, umflorte Gestalten. Gewickelt in hauchdünne Seide, die im kühlen Licht sanft schimmerte, standen sie schweigend da. Und obwohl der Mond so hell schien, herrschte eine düstere Atmosphäre. Etwas mystisches, fast surreales, haftete an der ganzen Szene.

Die Stille wurde von einem Geräusch unterbrochen, das klang wie zahlreiche kleine Glöckchen. In einer fließenden Bewegung drehten die seltsamen Figuren ihre Köpfe in die Richtung, aus der der Laut zu kommen schien. Ihre klaren, kristallblauen Augen starrten allesamt auf eine Stelle zwischen den Baukronen, wo etwas kurz aufzuglimmen schien und dann wieder erlosch, nur um darauf noch stärker zu leuchten und die weißlichen Gesichter seiner Beobachter zu erhellen. Bei näherem Betrachten konnte man erkennen, dass der längliche Schweif aus einzelnen, silbrig glänzenden Partikeln bestand, die wie Feenstaub hin und her tanzten und sich langsam auf die Mitte der Lichtung zubewegten. "Eine Nachtsträhne", flüsterte eines der Wesen bewundernd. Auch die anderen gaben erstaunte Laute von sich.

Nun stehengeblieben, bewegte sich die Nachtsträne in spiralförmigen Bewegungen auf der Stelle. Das elfenartige Volk versammelte sich im Kreis um sie und blickte wartend zu ihr nach oben. Lange verharrte die Nachtsträhne so in der Luft und alle hatten ihre Augen wartend auf sie gerichtet. Nur das Rauschen der Bäume, das Knacken der Äste und Tiere in der Ferne waren leise zu vernehme.

Dann, ohne jedes Vorzeichen, zog sich die Strähne in die Länge und schwirrte in raschem Tempo zum Boden. Sie spaltete sich in sieben Teile, so viele waren es, die um sie im Kreis standen, doch blieb sie in der Mitte noch in einem Strang beisammen. Die Enden aber wickelten sich wie Locken um die einzelnen Elfen. Ruckartig, wie ein gespanntes Gummi, das man plötzlich losließ, zog es die Fäden wieder zurück und die Elfen mit sich. Das Licht sog die Wesen ein und die Strähne, nun wieder in ihrer ursprünglichen Form, begann sich wie schon zuvor zu drehen. Immer schneller und schneller wirbelte sie umher bis sie schließlich explodierte, direkt darauf jedoch in sich zusammenfiel, so klein wurde, wie ein einzelner Stern. Schließlich verschwand sie ganz mit einem zischenden Geräusch, als ob man Wasser auf Feuer gieße.

Somit lag auch die Lichtung wieder dunkel und düster da, vermischt mit dem Schein des Mondes.

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