Während meines ersten Jahres in Hogwarts wurde ein Schülerzeitungsclub aufgebaut, der über die Jahre eine echte Redaktion, Reporter, die Interviews mit Schülern und Lehrern durchführen und Medienexperten dazu bekommen hat. Jeder, der eine interessante Geschichte hatte, konnte sich bei dem Club melden und mit großer Wahrscheinlichkeit gab es dann einen Artikel dazu. So kam es schon öfter vor, dass anonym von ungerechter Notenverteilung berichtet oder eine kleine Anzeige mit „Andrew soll mir gefälligst meine Mitschriften aus dem Zaubertränke-Unterricht zurückgeben" abgedruckt wurde. Doch nun, am 2. Dezember, einem verschneiten Montagmorgen, saß die komplette Lehrer- und Schülerschaft in der großen Halle beim Frühstück, entsetzt. Alle hatten entweder ein Exemplar der gedruckten Ausgabe in der Hand oder sahen es auf ihrem Smartphone. Eine riesige Schlagzeile prangerte direkt auf der ersten Seite. Sexuelle Übergriffe im Schulsprecherbüro: Ms. Tinsley nutzt ihre Machtposition aus! „Was ist hier los?", rief Khadija aufgeregt, die zu spät zu uns kam. Dustin hielt ihr seine Zeitung hin. Sie griff sie und überflog den Artikel. „Als ob", hauchte sie und gab Dustin das Papier zurück. „Darin steht, dass sie einen der neuen Vertrauensschüler ausgenutzt und sexuell missbraucht haben soll. Seine oder ihre Identität soll aber geheim gehalten werden, wegen Privatsphäre und so", erklärte Eny. „Was meinst du mit oder ihre? Es war auf jeden Fall einer der Jungs. Mädchen belästigen andere Mädchen nicht", stellte Khadija fest. Dustin meldete sich zu Wort. „Sicher, Dija?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue. Ich warf ihm einen zustimmenden Blick zu. Ich hinterfragte ihre Aussage ebenfalls. Es gab sicherlich Mädchen, die andere Mädchen sexuell ausnutzten, wenn sie nicht bekamen, was sie wollten. „Also, ich kann mir eh kaum vorstellen, dass Mädchen das irgendwem antun. Eigentlich machen ja hauptsächlich Männer sowas." Dustin lehnte sich zurück. „Wenn du meinst. Ist aber ein ziemlich zurück gebliebenes Weltbild, wenn du mich fragst." Kieran schnaubte. „Na, jetzt aber mal halb lang! Sie hat da schon Recht. Viele Mädchen und Frauen werden durch Männer belästigt oder vergewaltigt." „Jungs werden auch vergewaltigt", stellte Dustin mit Ernsthaftigkeit klar. Er schien wohl jemanden zu kennen, dem das passiert war. „Waren es dann vielleicht Elijah oder Izzy?", fragte ich. Alle sahen mich an und dachten kurz nach. Danach sprangen Khadija und Kieran auf, gefolgt von Eny und Nienke. Daran hatten sie wohl noch gar nicht gedacht. Nun saßen nur noch Dustin und ich da. „Willst du nicht auch mit dahin?", fragte er. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß eh, dass das nicht stimmt", sagte ich leise, sodass nur er es hören konnte. „Ehrlich? Kennst du Poppy?" Ich starrte auf die Schlagzeile, die ein Bild von ihr zeigte. Ihre schwarzen Haare lagen auf ihren Schultern und sie hatte ein seriöses Lächeln aufgesetzt. Das Bild bewegte sich und sie schien etwas in die Kamera zu erzählen. „Nicht wirklich. Wir haben einmal kurz geredet, aber... ich traue ihr das einfach nicht zu." „Weil sie ein Mädchen ist?" Dustin schien genervt. „Nein, nicht deswegen. In dem Punkt stimme ich dir zu. Frauen können auch schlimme Dinge tun. Nur ich traue es ihr als Person nicht zu. Sie würde so etwas nicht machen." Wir sahen uns wortlos an, danach wandten wir uns beide dem Artikel zu. Ich huschte über die Textzeilen, doch das große, bewegliche Bild, das in der Mitte prangerte, lenkte mich immer wieder von den Wörtern ab. Manchmal schien sie ernsthaft zu lächeln und lachte, vermutlich hatte jemand etwas Lustiges gesagt. Ich kannte sie wirklich kaum, aber ich traute ihr das einfach nicht zu. Khadija, Nienke, Kieran und Eny kamen zu uns zurück. Es sah nicht aus, als hätten sie ihre Antworten gefunden. „Keiner von den Vertrauensschülern ist da", brachte Nienke heraus. „Was?", fragte ich und starrte die Vier an. Kieran nickte zustimmend, sein heller Haarschopf wippte mit. „Die Lehrer sind auch alle gegangen. Keiner ist wirklich mehr hier." „Was ist mit Laquan, generell die ganze Truppe von der Schülerzeitung?", hakte Dustin nach und lehnte sich nach vorne. Plötzlich fiel mir ein, dass er mal der Schülerzeitung beitreten wollte, das aber im Endeffekt doch nicht gemacht hatte. Ich wusste aber nicht wieso. „Nach denen haben wir gar nicht geguckt", gab Kieran zu. „Meine Cousine Lou ist bei der Schülerzeitung. Ich hab geguckt, ob ich sie sehe, aber ich hab auch niemand anderen von denen finden können", erzählte Nienke. „Wir gehen sie jetzt suchen", beschloss Eny, „Das geht doch hier alles nicht mit rechten Dingen zu." Khadija grinste: „Wir teilen uns auf, ich gehe mit Nienke." Sie nahm besitzergreifend den Arm der Dunkelblonden. „Dann musst du mitkommen, um meine kleine Schwester zu finden. Ich hab sie am Ravenclawtisch nicht gesehen, als ich nach Lou gesucht habe. Sie ist gerade mal so elf Jahre alt, sie versteht noch nichts von sexueller Gewalt und sowas. Ich muss wissen, dass bei ihr alles okay ist." Khadija nickte bereitwillig und verließ mit Nienke die große Halle, nachdem sie Eny ein weiteres Grinsen zuwarf. Diese war rot angelaufen und bombardierte Khadija mit bösen Blicken, die Arme verschränkt. „Von mir aus, dann suchen wir jetzt nach den ganzen Vertrauensschülern und so", nuschelte Eny mit wütender Stimme und stapfte die Arme immer noch verschränkt Richtung Ausgang. Kieran warf uns verwirrte Blicke zu, bevor er Eny hinterhereilte. Ich sah zu Dustin. Dieser war bereits aufgestanden und kletterte über die Sitzbank. „Und wohin willst du jetzt?", fragte ich. „Ich muss was überprüfen", sagte er hastig, schnappte seine Tasche und ging. Nun saß ich alleine dort, mein Frühstück war unberührt, aber Hunger hatte ich auch nicht. „Hey, hast du das mitbekommen?" Gerade wollte ich mir überlegen, was ich jetzt vor dem Unterricht noch machen sollte, zumal ja eh die meisten vorhatten zu schwänzen, um lieber irgendwen zu suchen oder irgendwas rauszufinden, doch er durchkreuzte meine Pläne. „Was?", fragte ich Chase, der vor mir stand. Er zeigte mir das Display seines Smartphones, auf dem der Artikel über Poppy zu sehen war. „Oh nein, das hab ich ja überhaupt nicht- wow. Du musst der erste sein, der das heute herausgefunden hat." Meine Stimme triefte vor Sarkasmus. Er stopfte sein Handy wieder in seine Hosentasche. „Wie soll ich denn sonst ein Gespräch anfangen?", fragte er halb lachend. „Versuch's nächstes Mal mit gar nicht." Ich nahm meinen Rucksack und stand auf. „Warte", seufzte er. Ich seufzte noch heftiger und drehte mich zu ihm. „Ich wollte wissen, ob du Weihnachten nach Hause fährst." „Und was geht dich das an?" „Ich fahr dann nachhause." „Das ist schön für dich." „Und ich geh meinen Onkel besuchen." „Super." „Der Freund deiner Mutter." „Ich weiß." „Verstehst du, worauf ich hinaus will?" „Ja, und ich entscheide mich, es zu ignorieren. Sonst noch was?" „Ja. Bist du jetzt über den Ferien bei deiner Mutter?" „Wenn überhaupt bin ich dann bei meinem Vater." „Lebt der auch in Birmingham?" „Nein. Also egal, ob ich fahre oder nicht: Wir werden uns nicht sehen." „Aber du könntest-„ „Richte deinem Onkel schöne Grüße aus!", sagte ich, drehte mich um und ging. „Okay, mach ich", rief er mir hinterher. „Das war ein Witz", rief ich ernst über meine Schulter und beschleunigte meinen Schritt. Ich wollte nicht, dass er mir noch folgte. Keine Ahnung, was er da für eine Wahrheit aufdecken wollte, aber ich war nicht interessiert daran, ihm dabei zu helfen. Sollte er machen was er wollte, ich wusste genug über meine Mum.
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Schimmern deines Nebels
FanfictionScheidungskind und Hexe Lucy Haynes kehrt für ihr fünftes Schuljahr zurück nach Hogwarts. Dort warten ihre Freunde, ihre Familie und eine schwierige Phase ihres Lebens auf sie. Nach einem großen Skandal versucht das junge Mädchen die Wahrheit aufzud...