Kapitel I

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Ihr ruhiger Schlaf wurde abrupt von dem Klingeln des Weckers unterbrochen, der all ihre Erinnerungen an die letzte Nacht zurück in ihr Gedächtnis rief. Der kühle Wind, das nasse Laub und vor allem das Heulen, das sie antrieb weiter und immer weiter zu laufen. Mit einem Griff an ihre Stirn quälte Grace sich aus ihrem Bett und versuchte dabei zu begreifen, was in der Dunkelheit passiert war, doch schaffte es nicht klare und sinngebende Gedankengänge zu schaffen, auch wenn sie das Gefühl hatte das ganze Szenario bereits zu kennen. Die Nacht verschwamm immer weiter, während sie zu ihrem Kleiderschrank tapste und sich ihre Kleidung zusammensuchte. Bald war es nichts weiter als die vage Erinnerung an einen Traum und das Gefühl einer schaurigen Kälte und panischer Angst, welches sich tief in ihre Glieder geschlichen hatte.
Nach einer Tasse Kaffee hatte Grace auch den letzten Rest ihrer Müdigkeit vertrieben und schlüpfte in Mantel und Schuhe, um sich auf den Weg nach draußen in den stürmischen Herbst zu machen. Die Sonne schaffte es an Tagen, wie diesem nicht durch die dicke Wolkendecke zu brechen, wodurch alles rau und kühl wirkte.

Auf dem Weg zur Arbeit fing es schließlich auch noch an zu regnen, wobei die Tropfen schwer auf die Frontscheibe ihres Autos schlugen und sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie war noch nicht weit auf der Straße gefahren, als sich ein grauer Schatten etwas weiter weg auf der Straße auftat, weshalb sie angestrengt die Augen zusammenkniff um etwas erkennen zu können.

Was ist das?

Hastig trat sie auf die Bremse, als sich der Schatten nicht wegbewegte, sondern an Ort und Stelle verharrte. Das Prasseln des Regens wurde lauter und dröhnte in ihren Ohren, als sie schlitternd stehen blieb und die Finger dabei um das Lenkrad klammerte. Etwas ließ sie frösteln, brachte sie auf der anderen Seite aber auch dazu die Tür des Wagens zu öffnen und trotz des strömenden Regens auszusteigen. Was sie erblickte war kein Schatten, es war ein Wolf, der Mitten auf der Straße stand und leise winselte. Er hatte eine Pfote angehoben und Grace konnte das dunkle Blut erkennen, das an ihr hinablief und das auf der Straße stehende Wasser rot färbte.

Ohne einen weiteren Gedanken an mögliche Gefahren zu verschwenden setzte sie einen Fuß vor den anderen und wider Erwarten versuchte das Tier nicht zu fliehen, sondern blieb ruhig stehen und fixierte sie mit den goldenen Augen. Sie hatte keine Angst, als sie vor dem verwundeten Wolf in die Hocke ging und die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn sacht am Kopf zu berühren.

Sein Atem bildete kleine Rauchwölkchen in der kühlen Morgenluft, während er der Frau mit dem blonden Haar in die Augen sah. Sie war hübsch mit ihren feinen Zügen und den blassen grünen Augen. Doch ihr Anblick verschwand für ihn, als sie wegen eines lauten Autohupens aus ihrer Starre gerissen wurde und den Kopf ruckartig herumdrehte. Ein Auto hielt hinter dem der Frau und ein Mann stieg fluchend aus.

"Was soll das?", rief er. "Das ist die Hauptstraße, hier darf man nicht einfach anhalten."

Hastig duckte der Wolf sich unter Grace' Hand hindurch und verschwand mit wenigen Sprüngen im Waldrand hinter einem Baum. Die Schmerzen in seinem Bein plagten ihn, doch er durfte es nicht riskieren von dem fremden Mann gesehen zu werden. Er brauchte Grace' Hilfe, nicht die des Mannes, der auf der Stelle den Jäger holen würde, welcher ihm das Leben mit nur einer Spritze aushauchen könnte.

"Junge Dame!", sprach der ältere Mann Grace erneut an, als sie sich suchend nach dem Wolf umblickte, der nur wenige Momente zuvor bei ihr gestanden war.

"E-entschuldigung", stotterte die nun verunsicherte Frau und erhob sich hastig von der Straße, wobei sie sich das nasse Haar aus der Stirn strich.

"Ist alles in Ordnung bei Ihnen?" Der Mann kam langsam auf sie zu. Sorgenfalten prangten auf seiner Stirn.

"Ja, ich dachte, ich habe etwas gesehen."

"Geht es Ihnen wirklich gut?" Mit einem großväterlichen Lächeln auf den Lippen kam er näher.

"Ja."

Der Wolf konnte sehen, wie der Mann nach einem kurzen Gespräch zurück in sein Auto stieg und an Grace vorbei fuhr, um seinen Weg fortzusetzen. Langsam kam er wieder zwischen den Bäumen hervor, als die blonde Frau mit einem wütenden Fluchen gegen ihr Auto schlug. Sie musste denken, dass sie verrückt geworden war und sich seltsame Dinge einbildete, doch das stimmte nicht.

Mit einem leisen Wimmern, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, trat er von hinten wieder zu ihr. Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich um.

"Ich habe mir dich doch nicht eingebildet!", gab sie mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme von sich, runzelte jedoch im nächsten Moment misstrauisch die Stirn.

"Warum haust du eigentlich nicht ab?"

Sie schien fasziniert von ihm und musterte ihn ausführlich, bevor sie eine ruckartige Bewegung auf ihn zumachte, wie als wolle sie ihn vertreiben, doch er blieb ruhig.

Merkwürdig, dachte sie, ging jedoch erneut vor dem großen Tier in die Hocke, wobei sie genauer sein Vorderbein inspizierte.
"Was hast du nur gemacht?", murmelte sie vor sich hin, als könnte der graue Wolf ihr die Antwort darauf geben, doch alles was er tat, war es den Kopf schief zu legen. Sein Blick aus den gold schimmernden  Augen wirkte intelligent, so als würde er verstehen, was sie sagte, doch das war unmöglich.
Langsam erhob sie sich, schwach zitternd von dem kalten Regen, der noch immer auf sie hinabfiel. Grace überlegte, was sie tun sollte und irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie dem Wolf helfen musste.

Er beobachtete fasziniert, wie sie eines dieser Dinger zückte, mit denen sich die Menschen ständig unterhielten, ohne sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Mit schnellen Fingern tippte sie auf dem Gerät herum, bevor sie es sich ans Ohr hielt und mit einer höflichen Begrüßung hineinsprach.
"Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht zur Arbeit kommen.

Die Frau hielt kurz inne. "Ich bin krank geworden." In den weiteren Minuten, in denen sie sprach beobachtete er gespannt das Spiel ihrer Lippen, bevor der Moment verstrich und sie das Gerät wegpackte.

"Was soll ich jetzt nur mit dir machen?", schien sie mit einem Seufzen laut zu überlegen, woraufhin er die Ohren aufstellte und einen Schritt näher trat, um die Schnauze in ihre Handfläche zu stupsen, was sie überrascht zusammenzucken ließ, ihr jedoch nichts ausmachte.

Sie wusste aus einem unerfindlichen Grund, dass sie keine Angst vor ihm haben brauchte und, dass er ihr nichts tun würde, was ihr eine innere Ruhe einbrachte, als sie zum hinteren Teil des Autos ging und den Kofferraum öffnete, während ein merkwürdig vertrautes Gefühl in ihrer Handfläche brannte.

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