Die Zeit schien stillzustehen, während ihre Füße sie immer weiter durch den dunklen, nach Kiefern riechenden Wald trugen. Sie nahm alles und doch nichts wahr, als wäre sie in einer Art Trance gefangen, aus der es kein Erwachen gab. Doch auf einmal verstrich der Schleier und ihre zuvor getrübte Sicht wurde klar. Sie spürte die Nadeln und das feuchte Laub unter ihren bloßen Füßen und fühlte wie die kühle Nachtluft über ihre blasse Haut strich und ihr das blonde Haar um ihre Schultern wehte. Wie von selbst ging ihr Blick gen Himmel und ließ sie durch die Spitzen der Bäume hindurch den Vollmond erkennen, der einen silbernen Schimmer über alles legte und der Nacht etwas magisches verlieh. Vor Kälte zitternd legte Grace ihre Arme um sich und drehte sich suchend um die eigene Achse.
Was mache ich hier?, fragte sie sich, wie auch so viele Nächte zuvor, doch die Antwort blieb ihr verwehrt. Stattdessen fuhr sie herum als ein lautes Heulen die Nacht zerriss. Ihr Atem ging schnell und gehetzt, während ihr Herz kräftig gegen ihre Rippen schlug und in ihren Ohren hämmerte. Ungesehen von ihr schlich sich eine Kreatur der Nacht auf weichen Samtpfoten heran und beobachtete sie aus dem Schutz der Dunkelheit heraus. Sah, wie sie von Panik gefasst versuchte einen Ausweg zu finden und sich dabei immer wieder in eine andere Richtung drehte. Der Wolf stieß ein erneutes Heulen aus, dieses Mal jedoch deutlich leiser, bevor er den Kopf senkte, während sein Fell verschwand und den nackten Körper eines Mannes zurückließ, der mit angespannten Muskeln auf dem bunten Laub kauerte. Ohne einen Laut erhob er sich und schlich langsam näher, drückte sich jedoch in den Schatten eines Baumes, bevor die Frau ihn ausmachen konnte. Vorsichtig spähte er an dem moosbewachsenen Stamm vorbei und erblickte Grace' blasses Gesicht, das von Angst gezeichnet verzogen war. Er wollte zu ihr, wollte ihr einen Ausweg zeigen, wurde jedoch von sich selbst zurückgehalten, aus Furcht vor ihrer Reaktion. Die schöne Fremde war ihm so unendlich fern, auch wenn sie nur wenige Meter, zum Anfassen nahe, von ihm entfernt stand. Ihre blassen grünen Augen blickten in seine Richtung, konnten ihn jedoch nicht sehen, da er bereits wieder verschwunden war. Doch ein Rascheln schien ihn verraten zu haben.
"Hallo?", hallte ihre zittrige Stimme fragend durch den Wald, auch wenn sie keine Antwort erwartete.
War wohl doch nur der Wind..., dachte sie sich und ging einige Schritte in eine unbestimmte Richtung, hielt jedoch ruckartig an, als ein gefährlich klingendes Knurren zu vernehmen war.
"Ist da jemand?" Ein erneutes Knurren gefolgt von Rascheln war die Antwort und ließ sie in die entgegengesetzte Richtung losstürmen, ließ sie rennen so schnell sie ihre bloßen Füße über den weichen Waldboden tragen konnten. Er folgte ihr, trieb Grace in die Richtung, die aus dem Wald führte ohne sich ihr zu erkennen zu geben. Schon bald traf sie auf den Weg, den die Holzfäller tagsüber nutzten, um mit ihrem Landrover in den Wald zu fahren und Holz zu schlagen, weshalb ihr heimlicher Beschützer stehen blieb und sie weiter rennen ließ, in der Hoffnung, dass sie heil nach Hause fand.
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Howl
Werwolf»Biting words like a wolf howling« Nacht für Nacht erwachte Grace mitten im Wald, ein ganzes Stück weit entfernt von ihrem Haus. Sie wusste nicht, wie sie dort hingekommen war, doch sie wusste, dass sie dort niemals allein war. Eine dunkle und zugle...