Als sie wiederkam und eine Schale mit klarem Wasser auf dem kleinen Tisch bei der Couch abstellte, schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln, auch wenn es ihn einiges an Kraft kostete seine Schmerzen hinter dieser Maske zu verbergen. Seine Augen folgten ihren Bewegungen, doch als sie den nassen Lumpen auf seine offene Wunde senkte, kniff er sie zusammen, während er zischend Luft holte. Doch das Brennen der klaffenden Wunde war nicht das Schlimmste. Es war das Kribbeln in seinen Fingern und den Beinen, das die Taubheit ankündigte, die bald folgen würde, während das Gift, das der Biss übertragen hat, weiter durch seinen Körper floss. Oftmals hatte er die verendenden Bären gesehen, deren Bewegungen immer träger wurden, bis sie schließlich zusammenbrachen und keuchend liegen blieben. In ihren Augen hatte er ihren Schmerz gesehen und das Wissen an das bald nahende Ende.
Grace schien seine verkrampfte Miene bemerkt zu haben und musterte ihn eindringlich, nachdem sie die Wunde ausgewaschen hatte.
"Du brauchst einen Arzt", stellte sie fest und ließ den Lumpen in das bereits rote Wasser gleiten.
"Nein, keinen Arzt" Mit einem dumpfen Keuchen öffnete er die Augen und suchte ihren Blick. Er fand ihn und sie starrte ihm in das flüssige Gold, das seine Pupillen umfloss, wie Quecksilber. Alles hätte er ihr sagen können und sie würde es ihm glauben, auch wenn er sich dafür hasste wie nichts anderes. Es war grausam sie so zu manipulieren, doch er hatte keine Wahl.
Während sie ihm in die Augen starrte und ihre Blicke sich miteinander verwoben, wurde Grace immer ruhiger. Sie glaubte, dass der Fremde Gründe hatte, weshalb er ärztliche Hilfe ablehnte und wusste, dass es wichtig war, ihn nicht in die Nähe anderer zu bringen, auch wenn ihr selbst nicht klar wurde weshalb. Doch das Gefühl genügte. Mit einem Nicken bedeutete sie ihm verstanden zu haben, weshalb er mit einem erleichterten Laut den Blick abwendete.Als sie erneut verschwand, kam sie mit frischem Wasser und einem sauberen Lumpen zurück, den sie dem Fremden auf die Stirn legte, nachdem sie zögernd sein graubraunes Haar beiseite gestrichen hatte.
Merkwürdige Farbe, dieses dunkelgrau mit den braunen Srähnen darin, dachte sie und betrachtete seine Züge. Das markante Kinn und die hohen Wangenknochen schmiegten sich beinahe perfekt in das Gesamtbild.
"Wie heißt du?", fragte Grace dann unvermittelt in die aufkeimende Stille hinein und zwang sich dazu den Blick zu senken. Doch auch beim Anblick seiner muskulösen Brust röteten sich ihre Wangen als sie bemerkte, dass er noch immer völlig entblößt vor ihr saß.
"Daryl", erwiderte er mit erschöpfter Stimme. "Menschen erwarten aus Anstand zwar die Gegenfrage, aber du weißt, dass ich deinen Namen bereits kenne"
Die Lippen zu einer verwirrten Antwort geöffnet, schloss Grace sie wieder und zog stattdessen eine der Wolldecken über Daryl, dessen Züge sich zusehends entspannten als er langsam einschlief. Doch bevor er ins Reich der Träume glitt murmelte er etwas mit schweren Lippen, das Grace panisch die Augen aufreißen ließ. Er glaubte womöglich nicht mehr den Tag erleben zu können, da er Gift im Körper hatte. Doch was sollte Grace tun?
Hastig sprang sie auf und richtete den Blick dabei auf die Uhr, die an der mit Holz verkleideten Wand hing. Vier Uhr Zwanzig. Es würde noch dauern bis die Apotheken öffneten, also beschloss sie zu einer Notfallapotheke in der nächst größeren Stadt zu fahren. Fertig angezogen und bereits mit dem Autoschlüssel in der Hand drehte sie sich noch einmal zu Daryl um."Ja nicht sterben, verstanden?" Etwas besseres fiel ihr nicht ein um ihre Hilflosigkeit zu überspielen, bevor sie zur Tür herausging und in ihr Auto stieg. Laut hallte das Geräusch in ihren Ohren als der Motor startete und die Reifen über den holprigen Weg zu rollen begannen.
Es dauerte keine zwei Stunden bis sie ein entgiftendes Mittel gekauft und sich auf den Rückweg nach Hause gemacht hatte, doch als sie vor dem alten Waldhaus ankam war bereits die Sonne aufgegangen und warf rötliches Licht über den sonst so dunklen Wald, an dessen Rändern sich feine Nebelschwaden über den Boden schlängelten. Als sie die Tür öffnete warf sie schnell Schlüssel und Jacke beiseite und wendete den Blick zu der gegerbten Ledercouch. Doch statt die große Gestalt des Mannes fand sie nur einen Haufen Decken vor, was sie verdutzt innehalten ließ.
"Daryl?"
Mit vorsichtigen Schritten durchquerte sie das Wohnzimmer, bis sie direkt vor der Couch stehen blieb. Grace konnte schweren Atem hören und vernahm eine Bewegung unter den Decken, so als rege sich jemand darunter. Doch als sie ein leises Winseln hörte, blieb ihr beinahe das Herz vor Schreck stehen.
"Daryl?", erklang ihre Stimme erneut. Dieses Mal vorsichtiger und tastender.
Langsam schob sie die oberste Decke beiseite und ließ sie im nächsten Atemzug mit einem schrillen Schrei wieder fallen.
Das ist nicht möglich. Das kann gar nicht möglich sein.
Mit einer trägen Bewegung hob Daryl den Kopf von dem Polster, das seinen Schlaf so herrlich angenehm gemacht hatte und sah geradewegs in das verschrecke Gesicht der Frau. Er wollte nicht, dass sie solche Angst hatte vor dem, was sie sah, weshalb er versöhnlich die Ohren aufstellte und mit einem leisen Fiensen kundtat, dass er nicht gefährlich war. Doch sie wich immer weiter zurück, das Gesicht vor Angst verzogen.
Grace konnte den Blick nicht von dem Wolf abwenden, der unter den Decken zum Vorschein gekommen war. Langsam fügten sich die Puzzelteile in ihrem Kopf zusammen. Die Ähnlichkeit der Verletzungen. Der Verband. Die goldenen Augen.
"Daryl?", gab sie dann heiser und mit ungewöhnlich schriller Stimme zurück und versuchte etwas wie Zustimmung in dem Blick des Wolfes lesen zu können, doch das war verrückt. Sie war verrückt, das musste es sein. Unsicher blieb sie stehen, als das Tier mit dem graubraunen Fell versuchte sich aufzusetzen, jedoch zitternd zurück auf das Polster sank. Konnte das wirklich möglich sein?
Das muss ein Traum sein, kam es ihr und dieser Gedanke entlockte ihr ein wirres Lachen. Doch der Blick, den der Wolf ihr zuwarf, schien alles andere als ein Traum zu sein. Er war geprägt von Schmerz, jedoch schimmerte auch etwas anderes hinter dem Gold seiner Augen. Hilflosigkeit. Genauso hilflos, wie auch sie sich fühlte. Auf einmal schienen ihre Träume Sinn zu ergeben. Die Bildfetzen, die geprägt waren von einem beißenden Heulen und auch das Gefühl, das sie beinahe jeden Morgen beschlich kehrte mit aller Wucht zurück.
"Das ist real", gab Grace dann flüsternd zurück, so als teile sie ein Geheimnis mit ihrem wölfischen Besucher, der sie aus den intelligenten Augen ansah. Daryl deutete ein Nicken an, bevor er den Kopf wieder erschöpft sinken ließ. Seine Glieder waren ihm schwer geworden also versuchte er sich so wenig wie nur möglich zu bewegen. Zwar hätte er ihr gerne alles erklärt - denn das wäre gerade das Mindeste was er hätte tun müssen - aber er wusste, dass es ihm verwehrt blieb bis die Sonne sich wieder hinter die Berge senkte.
"Und du brauchst Hilfe", erinnerte sich Grace und ging zögernd auf ihn zu, wobei ihre Finger sich fest um die Packung in ihrer Hand schlossen. Sie atmete tief durch bevor sie sich auf den Teppich vor die Couch kniete und die kleine braune Glasflasche mit zittrigen Fingern aus der Packung zog. Wie viel brauchte ein Wolf wohl davon? Ratlos lag ihr Blick auf dem Fläschchen, bevor sie dieses öffnete und den Blick wieder hob.
"Schön ruhig bleiben"
Zögernd griffen ihre Finger die Schnauze des Tiers und schafften es sie ein Stück weit zu öffnen. Gerade so weit, dass Grace die Flasche zwischen seinen gefährlich anmutenden Zähnen hindurchschieben und sie zur Hälfte in seinen Rachen leeren konnte. Der Wolf öffnete nicht einmal die Augen, jedoch konnte sie seinem Atem auf der Hand spüren, was sie davon überzeugte, dass er noch lebte und ihre Bemühungen nicht vergebens waren.
Sobald sie sah, dass er schlief, fing sie an die Unordnung in ihrem Wohnzimmer zu beseitigen um sich davon abzulenken über das Geschehene zu grübeln, das ihr noch immer so unglaublich erschien, auch wenn all die Tatsachen dafür zu sprechen schienen. Doch Tatsache war auch, dass es solche Dinge nur in Märchen gab. Das alles versuchte Grace zu verdrängen, während sie sich eine Tasse Kamillentee machte und sich anschließend die knarzende Treppe hinauf, ein Stockwerk höher in ihrem Schlafzimmer einschloss, wo sie sich mit einem Buch in ihr Bett verkroch. Wenige Seiten später fielen auch ihr die Lider zu und das Buch glitt aus ihren zierlichen Händen, als der Schlaf sie übermannte.

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Howl
Hombres Lobo»Biting words like a wolf howling« Nacht für Nacht erwachte Grace mitten im Wald, ein ganzes Stück weit entfernt von ihrem Haus. Sie wusste nicht, wie sie dort hingekommen war, doch sie wusste, dass sie dort niemals allein war. Eine dunkle und zugle...