Wenn ich eins aus Mathe gelernt habe, dann ist es, dass es niemals einfach ist. Und wenn doch, dann ist es falsch. Genau wie die eigene Meinung oder sie zu vertreten. Springen könnte ich und dann tot sein, aber das war zu einfach. Ich lehnte meinen Kopf gegen den Kühlen Eisenstab der Brücke und schloss die Augen, hier war es so friedlich. Ich kam sehr oft her, wenn ich Stress zu Hause oder in der Schule hatte, dann kletterte ich über das Geländer der Brücke und setzte mich auf den Vorsprung, hörte Musik, zeichnete oder schrieb etwas. Oft saß ich auch einfach nur da und dachte nach, doch in der letzten Zeit kam ich hier für meinen Geschmack viel zu oft her.
Vor fast genau einem Jahr war meine Mutter gestorben und von da an lief alles den Bach runter, schulisch wie familiär. Mein Vater war oft in der Kneipe die Straße runter und kam immer sehr spät und voll nach Hause. Ihn sah ich höchstens schlafend oder betrunken, es war lange her das ich ihn nüchtern erlebt hatte und mein Bruder hatte seine Launen, er schrie oft rum, war mir gegenüber, bis auf vorhin, noch nie gewalttätig geworden, aber irgendwie war ich es auch selbst schuld, ich hätte ihn nicht provozieren dürfen. Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und hielt mir mein blaues Auge, es tat weh, nicht nur Körperlich, sondern auch Mental.
Ich holte das Foto meiner Mutter aus der Hosentasche, es war schon recht zerknittert, aber man konnte sie noch gut darauf erkennen, sie war wunderschön, selbst noch mit einer Glatze. Meine Mutter hatte einen Hirntumor und war daran auch gestorben. Ich sah runter, unter mir floss ein kleiner Fluss, es waren bestimmt fünf oder sechs Meter bis unten.
Ich verschwendete nicht einen Gedanken daran, denn ich wusste, dass es irgendwann nur besser werden konnte, die Hoffnung stirbt wirklich zu letzt.
Mit einem Seufzer richtete ich mich auf, ich konnte hier leider nicht für immer bleiben, mit dem Rücken zum Geländer balancierte ich auf dem schmalen Sims, bis zu der Stelle an der ich auf die sichere Seit klettern konnte. Die Sonne ging gerade unter und so setzte ich mich noch auf das Brückengeländer und sah in die Ferne.
Irgendwann war ich frei! Irgendwann konnte ich das hier alles hinter mir lassen! Irgendwo ein neues Leben beginnen! Ohne meinen Vater oder meinen Bruder! Allein der Gedanke an das Wort „Freiheit" zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht.
Plötzlich packte mich etwas, beziehungsweise Jemand von hinten und zog mich auf die Brücke, ich hatte die Person nicht gehört, da ich Kopfhörer trug.
Im ersten Moment dachte ich es wäre Christian, mein Bruder, aber ich merkte schnell, dass er es nicht war. Mein Körper versteifte sich automatisch, bitte keine Vergewaltigung, bitte, alles nur das nicht! Ich hatte Todesangst und begann ich mich in dem Griff des Fremden zu winden, ich schrie so laut ich konnte, „Lassen sie mich los!", wobei ich wusste, dass es bei dieser Gottverlassenen Gegend nichts nützte. Ich trat meinem Gegner auf den Fuß, er jaulte nur kurz auf hielt mich aber weiter hin fest.
Er hatte mich von hinten umklammert, ich begann ihm gegen das Schienenbein zutreten, „Hör auf!", rief er mit Schmerz in der Stimme, doch ich dachte nicht daran, ich wollte nicht vergewaltigt werden! Ich wollte nicht, dass mein ohnehin schon kaputtes Leben noch weiter zerbrach und ich eines Tages doch sprang. Ich sammelte alle meine Kräfte und schmetterte dem Fremden meinen Hinterkopf, mit voller Wucht gegen seinen. Er schrie auf und ließ mich los, ich nutzte die Chance zur Flucht, „Warte mal!", rief er mir hinter her, doch ich ignorierte es und rannte.
Nach wenigen Minuten brannte meine Lunge wie Feuer und das Stechen in meiner Seite brachte mich dann zum stehen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den nächst gelegenen Baum und rutschte daran runter. Warum? Warum? Warum passierte so etwas immer mir? War mein Leben nicht schon Scheiße genug? Ich legte meinen Kopf auf die Knie und begann zu heulen. Nach einigen Minuten vernahm ich Schritte, war das der Kerl von Vorhin? Suchte er mich jetzt? Ich blieb Still und starrte auf den Weg, jede Sekunde musste er um die Biegung kommen, doch dann vernahm ich Stimmen, die einer Frau und die eines Mannes.
„...wenigstens hast du es verhindert", sagte die Frau, „Ich weiß nicht Adie, irgendwie glaub ich nicht das sie springen wollte", redeten die beiden über mich? „Und warum? Was lässt dich das glauben?", die beiden kamen in Sicht weite, ein recht kleiner Typ, mit schwarzen Haaren, Lederjacke, Kapp und Sonnenbrille. Er hielt sich ein Taschentusch vor die Nase.
Okay, das war der Typ von vorhin, die Frau, die laut ihm Adie hieß, hatte ebenfalls schwarze Haare, die hinteren Haare waren Dreadlocks, die sie Hochgesteckt hatte, ihr Pony fiel ihr in die Stirn und sie trug ebenfalls eine Sonnenbrille, in ihrer Hand hatte sie eine Hundeleine, die sie beim gehen hin und her schlenkerte. Ich legte den Kopf wieder auf die Knie, als ich klein war und Ärger mit meinen Eltern hatte, hatte ich mir die Ohren zu gehalten, die Augen zugekniffen und mich ganz klein gemacht, denn damals war ich der festen Überzeugung, dass wenn man den Gegenüber nicht sah, man auch nicht gesehen werden konnte.
Aber Selbst wenn man sich die Ohren noch so gut zuhält, man hört immer etwas, wenn auch leise. Ich hörte rascheln neben mir, verharrte aber in der Pose, vielleicht würde die Person mich ja nicht bemerken, vielleicht würde sie weiter gehen. Doch dann spürte ich eine kalte Hundeschnauze an meinem Schienenbein, ich sah vorsichtig auf, vor mir stand ein kleiner wuscheliger Hund, sein Fell war schwarz weiß, wobei das weiß deutlich überwog. Ich streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, damit er mich beschnuppern konnte, dann kraulte ich ihn unterm Kinn. Als meine Mutter noch lebte hatten wir auch einen Hund, wir hatten ihn John genannt, nach John Lennon von den Beatles , meine Mutter war der totale Beatles Fan und hatte etliche Schallplatten von ihnen, doch jetzt standen sie nur noch im Schrank und verstaubten, warteten darauf, dass sie benutzt wurden. Doch eigentlich wussten wir es alle, sie würden nie wieder gespielt werden, aber keiner wollte sie weg schmeißen, denn es hing zu viel Erinnerung an ihnen, gedankenverloren kraulte ich den Hund.
„ROCKY!", der Hund hob kurz den Kopf, blieb aber bei mir, „Hey, Rocky, geh zu deinem Herrchen", doch er sah mich nur unverwandt aus seinen großen, dunklen Hundeaugen an und nahm eine Sitzende Haltung ein. Ich hörte Äste im Unterholz knacken und sah auf, vor mir stand der Mann der sich mit der Frau unterhalten hatte, ich starrte ihn ängstlich an, er brach das Schweigen zwischen uns, „Ich...ich tu dir nichts", ja natürlich! Was war denn das dann bitte vorhin? „Hab...war ich das?", er deutete verunsichert auf mein Gesicht. Ich schüttelte hastig den Kopf und stand auf, der Mann war klein, höchstens 1,70m, denn ich war 1,68m, auf seiner Oberlippe war eine getrocknete Schicht Blut. „Sorry", murmelte ich und sah ihm direkt ins Gesicht, „Was machst du hier um die Uhrzeit, alleine?", ich zuckte mit den Schultern.
„Billie?", rief die Frau, „Wo bleibst du?", „Ich komme!", rief er zurück, ich zuckte kurz zusammen, „Damit solltest du zum Arzt", er deutete auf mein Auge, „Passt schon, ich muss dann", ich drehte mich um und los zu rennen, „Warte!", ich stoppte kurz und drehte mich zu ihm „Hast du dich vorhin versucht dich umzubringen?", „Haben sie mich versucht zu Vergewaltigen?", er sah mich erschrocken an. Ich schüttelte den Kopf, „Wenn ich eins aus Mathe gelernt habe, dann ist es, das es niemals einfach ist. Und wenn doch, dann ist es falsch", ich drehte mich um und rannte durch das Unterholz davon.
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One Shots
RandomManche One Shots werde ich auch vielleicht später als Grundlage für eine weiter ff nehmen.