Wie immer beginnt mein Morgen hektisch. Ich hab verschlafen. Hastig springe ich aus meinem Bett, ziehe mir meine Klamotten vom Vortag an und sprinte runter in die Küche. Wie immer stehe ich alleine auf, somit muss ich mir in der Eile auch noch mein Brot für die Schule schmieren. Das Brot ist jedoch mal wieder leer. "Mist", entfährt es mir. Ich hab vergessen einzukaufen.
In letzter Sekunde erreiche ich noch meinen Bus und setze mich auf einen einzelnen freien Platz. Wie fast immer, kann ich mich in der Schule nicht konzentrieren, sondern plane innerlich, an was ich heute noch alles denken muss. "Ally, würdest du bitte deine Hausaufgaben vorlesen?". Wir hatten Hausaufgaben? Mein Kopf verfärbt sich sofort in ein kräftiges Rot, meine Wangen glühen. "Ich hab sie vergessen", murmle ich kleinlaut. Tadelnd sieht der Lehrer mich an. "Opfer", höre ich es irgendwo hinter mir zischen. Ich könnte heulen. Wenn sie nur wüssten, warum ich ständig alles vergesse.
Auch der schlimmste Schultag ist irgendwann vorbei und so verlasse ich hastig das Schulgebäude. Ich laufe zum nächsten Supermarkt, um noch einige Teile einzukaufen.
Voll bepackt schließe ich die Wohnungstür auf. "Hallo, ich bin wieder zuhause". Keiner antwortet. "Mama?". "Ich bin in der Küche". Ich bahne mir einen Weg in die Küche. Überall liegen Scherben. Sie hat wieder Tassen zerschmissen. "Ist alles in Ordnung?". Meine Mutter nickt nur stumm. "Tut mir leid, dass ich es heute Morgen wieder nicht geschafft habe", niedergeschlagen sieht sie mich an. "Schon okay". Ich lächle beschwichtigend.
Später am Nachmittag klingelt es an der Tür. Ich haste die Treppe runter und reiße die Tür auf. "Oh, Hallo Frau Müller", begrüße ich unsere zuständige Familienhilfe vom Jugendamt. "Hallo Ally", sie lächelt mich an.
Wir unterhalten uns und ich berichte ihr, wie es die Woche über gelaufen ist. Ich verschweige ihr lieber, dass ich meine Hausaufgaben schon wieder nicht hatte und das meine Mutter wieder Tassen zerschmissen hat. "Ally, was hälst du davon in eine Selbsthilfegruppe zu gehen?". Fragend sieht sie mich an. "Ich? Wieso?". "Deine Mutter hat psychische Probleme, so etwas geht nicht spurlos an den Betroffenen vorbei und ist mindestens genauso schlimm für sie". Mir schießen Tränen in die Augen. Zum ersten Mal seit langem, fühle ich mich ernst und wahrgenommen. Ich nicke nur lächelnd und mit Tränen in die Augen.
Eine Woche später ist es soweit. Pünktlich mache ich mich auf den Weg mit einem mulmigem Gefühl in der Magengegend.
DU LIEST GERADE
Schatten der Gesellschaft
Short StoryPsychische Krankheiten. Depressionen, Magersucht und viele mehr. Tausende Menschen sind davon betroffen, aber dennoch ist es ein Tabuthema in unserer Gesellschaft, in der es keinen Platz für Gefühle und Ehrlichkeit gibt. Trotzdem sind mehr Leute dav...