Leseprobe - die Salzwüste

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Mittwoch, 18. Februar 2015 - 01.15 Uhr

Amanda Clifton blickte sich bereits zum zehnten oder zwölften Mal um, als sie unter dem rot-weiß gestreiften Absperrband hindurchkroch und mit schnellen Schritten über den salzigen Boden der Salt Lake Wüste lief. Obwohl es Nacht war und sie genau wusste, dass dieses Gebiet nicht bewacht wurde, war sie furchtbar nervös. Ihr Herz klopfte vor Aufregung in dreifachem Tempo und sie musste sich bei jedem Schritt, den sie tat, von Neuem zum Weitergehen überreden. Es war falsch, schlimmer noch, es war verboten, mahnte sie ihr Gewissen, dennoch ging sie weiter. Die kleinen Kristalle in der Salzwüste reflektierten den Schein des Mondes mit einer solchen Intensität, dass Amanda keine Taschenlampe brauchte, um zu sehen, wohin sie sich bewegte. Die Wüste breitete sich vor ihr wie eine endlose weiße Decke aus. Ihr Ziel war die große Ausgrabungsstätte am Rande des Salzsees. In kurzen Abständen stieß sie kleine Wölkchen aus ihrem Mund aus, die hastig an ihr vorüberzogen, um sich gleich wieder aufzulösen. Trotz der dicken Jacke, die sie trug, überzog eine leichte Gänsehaut ihre Arme. Nach einigen Minuten erreichte sie einen gewaltigen Krater. Er besaß die Ausmaße eines Baseballfeldes und reichte etliche Stockwerke in die Tiefe. An den Wänden befanden sich unzählige Gerüste und Leitern. Auch sie reichten so weit in den Abgrund, dass das Mondlicht sie nicht mehr erreichte. Mit geschickten Schritten eilte Amanda über einen hölzernen Pfad, der aus aneinandergereihten Paletten bestand. Sie hätte den Weg durch dieses Durcheinander aus Plateaus, Sprossen und Stützpfeilern selbst mit verbundenen Augen gefunden, schließlich gehörte sie zu dem Team aus drei Archäologen, die diese Ausgrabung gestartet hatten.


Nach dem Studium hatte sie für einige erfahrene Kollegen als Assistentin gearbeitet, doch hatte sie immer einen gewissen Freiraum vermisst, die Möglichkeit, eigene Wege zu beschreiten. Da sie weder das Geld noch die Kontakte besaß, um sich selbständig zu machen, hatte sie zunächst eine Stelle bei der örtlichen Denkmalschutzbehörde angenommen. Doch diese Arbeit war nicht das, was sie sich in der langen Zeit ihres Studiums erträumt hatte - sie hatte diesen Beruf schließlich nicht ergriffen, um Akten zu wälzen. Eines Tages hatte sie zwei Archäologen, Everett und Jodi, kennengelernt, die sich über verschiedene Funde in der Wüste des Salt Lakes informierten und die, genau wie Amanda, auf der Suche nach etwas Großem waren. Gemeinsam folgten sie fortan den Spuren eines Volkes, das bereits lange vor den Indianern in dieser Gegend gelebt haben sollte. Immer wieder stießen sie anhand kleinerer Ausgrabungen, wie Everett ihre heimlich ausgehobenen Schlaglöcher in der Wüste nannte, auf seltsam deformierte Knochen. Hände, deren Fingerknochen eine unnatürlich kurze Form aufwiesen, und Arme, die verhärtete, panzerähnliche Auswüchse besaßen. Everett bemühte sich Woche für Woche darum, einen Sponsor zu finden, der ihnen eine echte Ausgrabung finanzieren würde. Es dauerte ganze zwei Jahre, bis er endlich jemanden an der Hand hatte. Jonas Everett war der Kopf des Trios und der Einzige von ihnen, der schon einmal eine Ausgrabung geleitet hatte. Gleichzeitig war er jedoch ein widerlicher Mistkerl, wie Amanda später feststellen musste. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war sie die Älteste in der kleinen Gruppe und hatte es noch nie zu einem besonderen Fund gebracht. Genau das hielt Everett ihr bei jeder Auseinandersetzung vor. Er speiste sie mit Assistentenjobs und Behördengängen ab. Immer wieder hatte sie es sich gefallen lassen, wenn er ihre Ideen als seine eigenen verkaufte, auch dass er sie gelegentlich vor dem ganzen Team bloßstellte und ihr Anfängerfehler unter die Nase rieb, hatte sie stets schweigend hingenommen. Wie sie ihn verachtete! Ihre Abneigung reichte inzwischen so weit, dass sie nachts loszog, um das gemeinsame Projekt zu boykottieren. Sie wollte Everett die große Entdeckung direkt vor der Nase wegschnappen - nur um diesem schnöseligen Ich-weiß-es-eh-besser-Typen zuvorzukommen. Heute Nacht würde sie Erfolg haben.


Amanda war nur noch wenige Meter vom Rande des Abgrundes entfernt. Zielgerichtet setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den schmalen Steg, der zu einem hölzernen Aufzug führte. Sie schaltete eine kleine Lampe ein, die sie an der Jacke trug. Der Lichtkegel war gerade einmal so groß wie ein Basketball, schützte sie jedoch vor tückischen Unebenheiten. Staubige, trockene Luft wehte ihr aus der Tiefe entgegen. Verzweifelt kämpfte sie gegen einen Niesreiz an, da jede Unachtsamkeit sie in dieser Situation schnell das Leben kosten konnte - immerhin bewegte sie sich ohne jede Absicherung über das Brett. Amandas Nervosität wollte einfach nicht nachlassen. Fünfmal musste sie die Abwärtstaste des Aufzuges drücken, ehe ihre zittrigen Finger genug Kraft entwickelten, um das klapprige Gestell in Gang zu setzten. Schließlich setzte es sich in Bewegung, und je weiter sie hinabfuhr, desto stärker stieg ihr ein modriger, beißender Geruch in die Nase, ähnlich dem eines verwesenden Tierkadavers.


„Ich werde es dir schon zeigen, Everett", flüsterte sie, während die Wände an ihr vorbeirasten. Endlich erreichte der Aufzug die tiefste Ebene. Amanda schob das kleine Gitter beiseite und setzte einen Fuß auf den steinigen Boden. Zu ihren Seiten ragten gewaltige schwarze Felsbrocken empor und verengten den Gang zu einem schmalen Pfad. Die Luft war dünn, was ihr das Atmen gehörig erschwerte. Der Staub schwebte in dicken braunen Wolken durch die Luft und bildete eine schwammige Nebelfront. Amanda stieß mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand, der daraufhin klappernd zu Boden fiel. Es handelte sich um eine der zahlreichen Gaslampen, die in jedem Gang standen. Sie griff danach und zündete sie an.

„Irgendwo hier muss es sein", flüsterte sie, während sie sich durch eine enge Felsspalte schob. Vor einer massiven Gesteinswand endete der Weg.

„Das ist unmöglich", raunte Amanda. Sie war in einer Sackgasse gelandet. Ihren Aufzeichnungen zufolge hätte sich genau an dieser Stelle eine Höhle befinden müssen. Immer wieder hatte sie alte, symbolhafte Darstellungen miteinander verglichen, die genau an dieser Stelle auf eine Kammer schließen ließen. Doch nun war nichts davon zu sehen. Amanda stellte die Lampe auf die Erde und tastete über die kalte, harte Oberfläche der Felswand, konnte jedoch nichts finden – da war kein versteckter Mechanismus, nicht einmal einen Spalt zwischen den Felsen konnte sie ertasten. Die Enttäuschung drohte sie zu überwältigen. Für Amanda war diese Ausgrabung die letzte Chance auf einen archäologischen Durchbruch, andernfalls würde sie sich durch den stetig wachsenden Geldmangel gezwungen sehen, einen Job im Museum anzunehmen. Sie stellte sich vor, wie sie Schulklassen durch Ausstellungen führte und gelangweilten Gesichtern anhand von Kunststoffneandertalern die Evolution zu erklären versuchte. Aufgescheucht lief sie hin und her. Der Gedanke an eine solche Zukunft und an Everetts Reaktion machte sie wütend. Sie hastete ein paar Schritte vor und wieder zurück. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Plötzlich blieb sie mit einem harten Ruck stehen, ihre Füße wollten ihr nicht mehr folgen. Sie blickte hinab. Die Gaslampe gewährte ihr nur einen schemenhaften Überblick, doch dieser reichte aus, um ihr einen gewaltigen Schreck einzujagen. Ihre Füße waren in dem steinernen Boden versunken. Schlimmer noch, sie sanken immer weiter ein.


„Oh Gott, nein!", schrie Amanda panisch auf und versuchte ihren linken Fuß aus dieser grotesken Form von Treibsand zu befreien, jedoch fühlte es sich so an, als würde sie mit jeder Bewegung weiter hinabgezogen. Sie zerrte und zog, doch nichts half. Das kinnlange, braune Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Sie war nicht sonderlich schwer, die Leute bezeichneten sie gerne als mager. Vielleicht konnte es ihr doch noch gelingen, sich selbst aus dieser sonderbaren Masse zu befreien, hoffte sie und umfasste ihre Wade. Das stellte sich jedoch als großer Fehler heraus – denn jetzt konnte sie auch ihre Arme nicht mehr bewegen.



Das Blut der KrokodileWo Geschichten leben. Entdecke jetzt