Leseprobe - Vermisste Personen

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„Das überprüfen wir am besten gleich", entgegnete er. Mittlerweile war auch der Schmerz wieder in sein Bewusstsein getreten und er bemerkte, dass sich ein deutlicher Bluterguss rings um sein Daumengelenk bildete. Er nahm das kleine Funkgerät zur Hand.

„Kruger, Reynolds, ich bin in der Prospect Street Ecke Paxton Avenue. Ich habe Webkin und den Aufenthaltsort von Jodi Hedge. Lasst uns den Fall zu Ende bringen", setzte er eine Meldung an seine Kollegen ab.


Kurz darauf fuhr der schwarze Ford Transit vor und sie verfrachteten Webkin auf die hintere Ladefläche, die mit einem Gitter vom vorderen Teil abgegrenzt war. Kruger betrachtete die Schürfwunde an Toms Schläfe und den geschwollenen blauen Daumen.

„Fahren wir auf die Wache?", fragte er.

Tom kletterte wortlos auf den Beifahrersitz und starrte die Straße entlang.

„Fortune Road. Wir holen Jodi Hedge zurück", sagte er mit fester Stimme. Der schwarze Van setzte sich in Bewegung und fuhr tiefer in das Industriegebiet Salt Lake Citys hinein. Hier gab es keine Wohnhäuser mehr, nur noch kleinere Fabrikhallen, vor denen vereinzelt Autos parkten. Kruger drosselte die Geschwindigkeit.

„Zu welcher Halle müssen wir?", fragte er. Tom drehte sich wortlos um und starrte Webkin an, der hinter dem Gitter saß.

„Fahren Sie noch ein Stück weiter, vorbei an der Thatcher Company. Am Ende der Straße gibt es ein leerstehendes Lagerhaus", erklärte Webkin mit leiser Stimme.

„Ich warne Sie. Wenn das ein Bluff sein soll, war die gebrochene Nase nur ein Vorspiel", drohte Tom. „Also, wo ist der Schlüssel?" Webkin steckte ihn eilig durch das Gitter. Reynolds reichte ihn an Tom weiter. Dessen Blick blieb fassungslos an dem herzförmigen Anhänger hängen.

„Schlechter Scherz", murmelte er und richtete seinen Blick wieder auf die Straße.


Sie erreichten einen vollkommen leeren Parkplatz. Überall standen große Mengen an Stahlträgern und alten verrosteten Containern herum. Offenbar wurde der Platz nur noch zur Schrottlagerung genutzt. Reynolds wartete mit Webkin im Wagen. Tom stieg als Erster aus. Der sandige Boden knirschte bei jedem Schritt unter seinen Füßen und erinnerte ihn an das Geräusch, das er gehört hatte, als er dem Mann das Nasenbein zertrümmert hatte. Die kahlen Äste der Buchen, die am Zaun entlang eine Reihe bildeten, warfen ein langes dunkles Streifenmuster auf den Boden. Tom sprach kein Wort. Kruger folgte ihm zum Eingang der kleinen Lagerhalle. Die Seitentür war nicht verschlossen, ein weiteres Indiz dafür, dass dieses Gebiet verlassen war. Im Inneren der weitläufigen Halle türmten sich Berge von Schutt, die von dem Licht, das durch die zerschlagenen Fenster fiel, in ein unwirkliches Graugelb getaucht wurden. Toms Schritte wurden immer schneller, er wusste nicht genau, in welche Richtung er gehen musste, aber irgendwie führten ihn seine Füße automatisch weiter. Beinahe kam es ihm so vor, als riefe ihn die vermisste Frau und er müsste nur noch ihrer Stimme folgen.

„Glaubst du, dass Sie noch am Leben ist, Tom?", fragte Kruger, der für alle Fälle seine Waffe gezückt hielt.

„Er sagte, sie sei im Keller", antwortete ihm Tom. Am Ende der Halle kamen sie vor einer kleinen Treppe zum Stehen. Hier endete auch das Sonnenlicht und es blieb nichts übrig als ein finsterer Abstieg. Tom ging, ohne zu zögern, weiter. Er nahm eine kleine Taschenlampe von seinem Gürtel und leuchtete ihnen damit den Weg. Je weiter sie die Treppe hinabstiegen, desto stärker wurde der muffige Geruch, der von den feuchten Wänden auszugehen schien. Unten angekommen, erfasste der Schein der Taschenlampe eine heruntergekommene Metalltür. Tom umfasste den Türknauf und rüttelte daran, doch die Tür war, wie erwartet, fest verschlossen. Er zog den kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn in das Schloss. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt weit. Es war nichts zu erkennen. Der Raum war komplett abgedunkelt und es herrschte eine unheimliche Stille. Er befürchtete, dass sie zu spät kämen, als wie aus dem Nichts ein Bild vor seinen Augen erstand. Er stellte sich vor, wie Jodie nach Hause kam. Wie sie die Tür zum Haus ihrer Eltern öffnete, wie sie das Wohnzimmer betrat, in dem ihre Familie saß und krampfhaft auf ihre geliebte Tochter wartete. Er stellte sich vor, wie sie von ihrem Sofa aufsprangen, wie fest sie sie an sich drückten, wie froh sie waren, ihre Prinzessin wiederzusehen. Er musste sie einfach zurückbringen, zurück an ihren Platz.

„Jodi Hedge? Ich bin Tom vom Salt Lake City Police Department. Ich bin gekommen, um Sie hier rauszuholen!", rief er in den dunklen Raum hinein. Als keine Reaktion erfolgte, öffnete Tom die Tür ganz und ging vorsichtig einige Schritte vorwärts. Mit der Taschenlampe leuchtete er über einen kleinen Klapptisch, auf dem ein Teller mit vertrockneten Essensresten stand und mehrere Wasserflaschen, die jedoch alle leer waren.

„Vermutlich hat sie seit Tagen nichts mehr gegessen", murmelte er. In der Ecke bemerkte er eine alte Matratze, auf der ein paar Decken lagen. Tom näherte sich dem fleckigen Ding und beugte sich vor, in der Hoffnung, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Währenddessen setzte sich Kruger mit Reynolds in Verbindung und bat ihn einen Krankenwagen zu rufen.

Plötzlich schoss ein Schatten aus einer dunklen Ecke auf sie zu und klammerte sich an Toms Hals fest. Der Körper streifte seinen verletzten Daumen und verursachte einen scharfen Schmerz.

„Ich will hier raus. Holen Sie mich hier raus", wimmerte eine heisere Stimme an seinem Ohr.

Tom leuchtete sie mit der Taschenlampe an, um zu erkennen, ob sie verletzt war. Ihre langen blonden Haare hingen in fettigen Strähnen vor dem verdreckten Gesicht. Sie trug einen langen olivfarbenen Parker, der ihr drei Nummern zu groß war, und eine löchrige blaue Jeans. Ihr Gesicht wirkte ausgemergelt und äußerst verletzlich. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet und ihre ausgetrockneten Lippen waren an mehreren Stellen aufgesprungen. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen und zeichneten helle Linien in die Schmutzschicht. Tom hielt sie einen Moment in den Armen. Das Mädchen zitterte stark unter seinen Händen, vermutlich war sie unterkühlt. Ihr Griff wurde zunehmend schwächer.

„Es ist vorbei. Wir werden jetzt von hier verschwinden", versuchte er sie zu beruhigen. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab und er näherte sich jenem Nullpunkt, an dem sein Kopf sich wie leer gefegt anfühlte. Einen solchen Moment durchlebte er jedes Mal, wenn er eine Person zurückbringen konnte. Es war keine euphorische Freude wie bei manchen seiner Kollegen und auch nicht das Gefühl, der Held des Tages zu sein - er war kein Mensch, der sich selbst auf die Schulter klopfte. Es war einfach das beruhigende Gefühl, das Mädchen wieder zurück zu ihren Lieben zu bringen. Tom stützte die junge Frau, als sie die Treppe hinaufgingen. Sie war so schwach, dass es ihr schwerfiel, sich an dem Geländer festzuhalten. Nachdem sie oben angekommen waren, kniff Jodie angestrengt die Augen vor dem Sonnenlicht zusammen. Tom konnte nun das volle Ausmaß ihres Zustandes erkennen. Sie wies eine geradezu gespenstische Blässe auf, die Wangen waren richtig eingefallen.


Als sie am Ausgang der Halle angekommen waren, sackte Jodi Hedge in Toms Armen zusammen. Sie hielt ihr Gesicht der wärmenden Sonne entgegen und atmete in kurzen, hastigen Zügen.

„Halten Sie durch. Der Krankenwagen wird gleich da sein", sagte Tom und hockte sich zu ihr auf den Boden.

„Es ist ..." Sie unterbrach sich. „Ich hatte Angst, nie wieder aus diesem stinkenden Loch herauszukommen. Danke", fuhr sie erschöpft fort. In diesem Moment fuhr auch schon ein Krankenwagen auf das staubige Areal. Zwei Sanitäter stiegen aus und kümmerten sich um das Mädchen. Einer von ihnen kam auf Tom zu, er war von kräftiger Statur.

„Wir werden mit ihr in die Notaufnahme fahren. Ihr Kollege sagte, sie sei schon seit gut drei Wochen dort festgehalten worden?", fragte er. Tom nickte.

„Das ist richtig. So wie es aussieht, hatte sie dort auch kaum etwas zu essen. Die Trinkflaschen, die ich gesehen habe, waren ebenfalls leer", erklärte er dem Sanitäter, während er nachdenklich zu Jodi Hedge hinüberblickte. Dem stämmigen Mann entging nicht, dass Toms Daumengelenk bereits zu einem blauen Ballon angeschwollen war.

„Was ist mit Ihrer Hand passiert? Fahren Sie mit? Es ist besser, wenn sich das mal ein Arzt ansieht", meinte er trocken. Tom beobachtete, wie der andere Sanitäter Jodie bereits auf einer Trage in den Krankenwagen schob. Wenn er mitfuhr, konnte er sie noch ein Stück begleiten. Er würde bei ihr bleiben, bis ihre Familie käme.

„Wahrscheinlich ist das keine schlechte Idee", antwortete er.


Das Blut der KrokodileWo Geschichten leben. Entdecke jetzt