F L O R E N C E
Sie fand, sein Name klang wie ein schlauer Name.
Tristan.
Das war zwar ein komischer Name, aber sie fand, er ließ ihn schlau wirken. Man musste natürlich sofort an Tristan und Isolde denken, aber in dem Alter, in dem Florence war, kannten nur noch wenige den Klassiker. Und wenn Teenager es dennoch taten, dann kannten sie eine billige, moderne Verfilmung. Florence fand es nicht so wichtig, dass ein Tristan in einer großen Liebestragödie eine so wichtige Rolle gespielt hatte – denn es war ja ein anderer Tristan gewesen. Und mit dem Tristan, über dessen Namen sie jetzt nachdanke, würde sie niemals zusammenkommen – also brauchte sie sich auch keine Sorgen darüber zu machen, wie arm dran die Frau an Tristans Seite mal sein würde. „Isolde" würde sie vielleicht manchmal genannt werden. Bei der Vorstellung daran musste Florence den Kopf schütteln. Während sie auf Tristan zuging, dachte sie wieder das, was sie anfangs gedacht hatte.
Sie fand, Tristan klang wie ein schlauer Name. Selbst wenn Tristan nicht schlau gewesen wäre, hätte er zumindest so gewirkt, ganz egal, wo er hinkommen würde. Aber Florence war sich ziemlich sicher, dass er zumindest schlau genug war, um ihr zu helfen.
Sie blieb vor ihm stehen. Er saß mit einigen anderen, deutlich jüngeren Schülern an einem großen Tisch der Schulbücherei.
„Hallo", sagte sie und musste zugeben, dass es ziemlich gelangweilt rüberkam. Sie wollte ihn zwar nicht heiraten – aber auch nicht einschläfern! Florence richtete sich zu ihrer vollen Größe aus und stemmte einen Arm in die Hüfte.
„Ich gebe gerade Mathenachhilfe. Brauchst du Mathenachhilfe?" Tristan legte einen Bleistift vor sich auf den Tisch.
„Nein", sagte Florence. „Also eigentlich schon", gab sie zu, als sie genauer darüber nachdachte, „aber nicht jetzt – ich meine, nicht von dir." Florence hätte sich am liebsten ihren Hockeyschläger ins Hirn gerammt. Weshalb war sie so nervös? Das war nur Tristan. Tristan, der auf seltsame Art und Weise immer in ihrer Nähe vor sich hinvegetierte. Im Kindergarten war er in derselben Gruppe gewesen wie Florence. Während Florence kopfüber am Klettergerüst hing, sah sie ihn manchmal an einem Baum lehnen und ein Buch lesen. In der Grundschule waren sie dann wieder gemeinsam in einer Klasse. Aber seit sie auf der weiterführenden Schule waren, hatten siemnur noch wenige Fächer zusammen. Dementsprechend hatten sie mittlerweile viele Jahre noch weniger miteinander zu tun gehabt, als in den Jahren davor. Florence hätte nicht einmal mehr gewusst, welche Haarfarbe Tristan hatte (Es war schwarz). Dass Florence nichts über Tristan wusste, lag daran, dass sie ihn - trotz der vielen Male, die sie gemeinsam auf Klassenfahrt gewesen waren und obwohl sie zu jedem Geburtstag eines Klassenkameraden den gleichen Kuchen gegessen hatten – nur sehr selten sprechen gehört hatte. Tristan sprach kaum. Im Kindergarten hatte Florence geglaubt, Tristan sei stumm. Bis sie schließlich die Erzieherin danach fragte und diese ihr überrascht eröffnete, dass Tristan „ganz normal" sei. Florence blieb skeptisch. Aber dass Tristan schlau war, davon war sie schon immer überzeugt gewesen. Und einmal, als in der Grundschule ein Mädchen gesagt hatte, Tristan sei dumm, weil er nie sprechen würde, hatte Florence es geschlagen. Sie hasste es, wenn andere Urteile über jemanden fällten, den sie nicht kannten.
Jetzt hob Tristan die Augenbrauen.
„Was ich sagen will: Ich bin wegen etwas anderem hergekommen", sagte Florence. Sie beobachtete Tristans Mimik und war sich bewusst, dass sie dabei drei Augenpaare aus der Mittelstufe begutachteten. Alles war spannender als Mathenachhilfe. Selbst eine stotternde Verrückte mit einem Hockeyschläger in der Bibliothek.
„Es geht um eine Geschichte, die ich geschrieben habe. Ich will sie zu einem Wettbewerb einreichen."
„Das ist schön", erwiderte Tristan.
Florence wollte gerne etwas Schlagfertiges entgegnen, doch sie hatte nicht mit einem solchen Kommentar gerechnet. Sie hatte gedacht, Tristan würde abwarten, bis sie gesagt hatte, was sie zu sagen hatte und ihr nicht ins Wort fallen. Und jetzt hatte sie für einen Augenblick keine Worte mehr.
„Und was habe ich damit zu tun?", half Tristan Florence auf die Sprünge und tippte einem der Mittelstufenschülern auf den Collageblock, um ihn zum Arbeiten zu animieren. Dann stand er auf. Er war fast so groß wie Florence. Aber eben nur fast.
„Würdest du es vorher lesen?", fragte Florence unverbindlich.
Tristan sah sie misstrauisch an. „Wieso ich?", fragte er und verschränkte die Arme.
„Du bist schlau", erwiderte Florence großzügig. „Ich erwarte, dass du es auf intellektueller Ebene verstehst. Und nicht wie die meisten meiner Freunde einfach ‚gut' findest."
Er erweckte den Anschein, als würde er ernsthaft darüber nachdenken.
Florence trat von einem Bein aufs Andere. „Und?", fragte sie.
„Na gut", ging er nachgiebig auf ihre Bitte ein.
Auf Florence' Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
„Freu dich nicht zu früh", sagte er. „Ich verlange natürlich etwas im Gegenzug dafür."
Florence verdrehte die Augen. „Und was?"
„Das überlege ich mir noch. Aber auf jeden Fall schuldest du mir was."
Florence zuckte die Schultern. Na gut, dann schuldete sie ihm eben etwas. Vielleicht Physikhausaufgaben. Oder einen Aufsatz in Spanisch. Sie hatten Spanisch zusammen. Und Florence war gut in Spanisch. Aber vielleicht wollte er auch einfach nur ein Notizheft von ihr. Es war keine große Sache. Florence nickte Tristan zu, ehe sie ging.
Und er rief ihr nach: „Wenn es schlecht ist, werde ich dir sagen, dass es schlecht ist."
„Ist gut", erwiderte Florence, nachdem sie ihre Trainingstasche geschultert hatte und in Richtung Sporthalle marschierte. Ehe sie die Bibliothek verließ, rief sie durch den Gang: „Aber es ist nicht schlecht." Und sie glaubte an das, was sie sagte.T R I S T A N
Tristan hatte sie kommen sehen. Er hatte gehofft, dass sie Nachhilfe brauchte. Mehr wollte er nicht. Er wollte heute einfach neben einem hübschen Mädchen sitzen und das erklären, was er gut konnte: Mathematik.
Die Zahlen ließen ihn nie im Stich. Auf sie konnte er sich verlassen. So inständig hatte Tristan gehofft, dass Florence Nachhilfe brauchte und sich nicht einfach ein Buch aus einem der Regale nehmen würde, um es bei der schrulligen Bibliothekarin auszuleihen. Und dann hatte sie seinen Wunsch übertroffen. Verrückt. Tristan fand Florence interessant, hätte sich gerne mal mit ihr unterhalten.
Er hatte schon oft gesehen, wie Florence Papierboote bastelte. In den paar Kursen, die sie gemeinsam hatten, saß er meist ein paar Reihen vor ihr und konnte sich manchmal unauffällig zu ihr umdrehen, natürlich nur, um zu sehen, ob sie Papierboote baute. Das tat sie scheinbar oft. Manchmal war der ganze Klassenmülleimer voll davon. Florence streckte beim Bauen unbewusst die Zunge heraus und Tristan fand, sie war dabei niedlich. Manchmal, wenn die Sonne im richtigen Winkel auf die Fenster schien, konnte Tristan sogar sehen, wie sich Florence darin beim Papierboote-Bau spiegelte.
Florence war dieses Mädchen, dem jeder Junge auf dem Flur mit Respekt begegnete. Sogar die, die sonst Witze über alles und jeden rissen, was atmete. Es war, als würde Florence ihnen auf telepathische Weise befehlen, den Kopf zu senken und leise „Hey Florence" zu hauchen. Tristan war sich ziemlich sicher, dass Florence das gefiel. Die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. Jeder Junge hätte sich geehrt gefühlt, ihr Freund zu sein. Aber so war Florence nicht. Sie brauchte niemanden – bis auf sich selbst. Sie hatte rückenlanges Haar, welches sie manchmal mit einem Zopfgummi, welches sie am Handgelenk trug, zusammenband. Mit den Sommersprossen und ihrem Hockeyschläger, den Florence als Kapitänin des Schul-Hockeyteams überall mit dorthin nahm, wo sie hinging, wirkte sie ein bisschen wie Bibi Blocksberg (nur mit Schläger statt Besen), die Tristan im Kindesalter ziemlich gut gefunden hatte. Kurzum: Florence war vermutlich viel zu dominant für einen Freund. Aber daran dachte Tristan auch gar nicht. Er wollte eigentlich mit gar keinem Mädchen zusammen sein. An Florence faszinierte Tristan, dass sie so anders war als er, um nicht zu sagen, das genaue Gegenteil.
Tristan war zurückgezogen. Er erledigte, was die Lehrer ihm auftrugen, war zuverlässig. Ein paar Nerds saßen mit ihm an einem Tisch, wenn sie in der Kantine zu Mittag aßen, doch Tristan konnte sich Namen schlecht merken – und er brauchte sich die Namen der Jungs auch nicht merken. Während die anderen über neuste Comicneuerscheinungen redeten, rechnete Tristan in seinem Kopf Zahlen zusammen, die er gerade interessant fand.
28 Leute standen in der Essensschlange, es gab 12 Tische mit je 20 Plätzen – wenn er davon ausging, dass jeder Tisch zu ¾ gefüllt war, dann machte das insgesamt 213 Leute, die sich insgesamt in der Kantine aufhielten – das fünfköpfige Küchenteam mitgerechnet. Solche Sachen dachte Tristan während der Mittagspause.
Und wenn er hätte raten müssen, hätte er vermutet, dass Florence ihre Pause auf der Lehne einer Bank verbrachte, in ihr Handy tippend, wie ätzend und langweilig ihre Schule war und dass es niemanden gab, der ich auch nur annährend das Wasser reichen konnte.
In dieser Beziehung ähnelten sich Florence und Tristan fast ein wenig. Sie waren beide eigen und glaubten fest daran, besser als die anderen zu sein – zumindest in einer bestimmten Sache. Was in Tristans Fall Mathematik war.
* Bilder via We Heart It.
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B L U M E N M Ä D C H E N
Teen FictionFlorence hat weder Ahnung von Quantenphysik noch interessiert sie sich dafür. Sie arbeitet viel lieber im Blumenladen ihrer Mutter. Tristan weiß vielleicht, was Quantenphysik ist, aber dafür kann er keine Farben sehen. Er interessiert sich für Mod...