T Ü R S T E H E R

18 3 1
                                    

TRISTAN

"Was zum Teufel machst du hier?" Florence hatte direkt vor Tristan angehalten und atmete schwer, da sie gerade vom Einlaufen kam. Sie trug ihr Hockey-Outfit, was an ihr ziemlich gut aussah, wie Tristan fand. Sie hätte öfter Knieschoner tragen sollen. Wären sie ein richtiges Accessoire gewesen.
"Ich bin wegen meiner Schwester hier", erklärte Tristan. "Sie spielt im selben Team wie du."
"Echt?" Florence kratzte sich am Kopf.
"Du bist die Kapitänin und hast keine Ahnung, wer in deinem Team ist?" Tristan zog sie auf und grinste dabei. "Oder ist es bloß mein Nachname, den du nicht kennst?"
Ohne, dass Florence etwas sagen musste, erkannte Tristan, dass es genau darum ging.
"Keller", erklärte er ohne Umschweife.
Florence warf einen Blick auf ihr Team, die am anderen Ende des Feldes Hampelmänner machten. "Valerie ist deine Schwester?", fragte sie.
Sie sahen beide zu ihr hinüber. "Sie ist so anders als du", sagte Florence. "So ..." Sie fand kein Wort, das Tristan nicht beleidigt hätte.
"Beliebt?", fragte Tristan. "Hübsch? Talentiert? Sportlich?"
"So hab' ich's nicht gemeint", grummelte Florence.
"Ist schon in Ordnung", meinte Tristan. "Ich glaube, du solltest zum Team zurück. Nummer 4 winkt wie wild."
Florence sah hinüber. "Na dann", sagte sie.
"Bis später", sagte Tristan. Als Florence sich nocheinmal umdrehte, fügte er hinzu. "Das Pizzaessen für die Mannschaft, das Valerie ihres Geburtstag wegens angesetzt hat, ist natürlich bei uns."
Florence nickte, als hätte sie es gewusst und joggte dann zur Mannschaft zurück. Die Nummer Eins auf ihrem Rücken federte mit jedem Schritt. Wenn es ein Mädchen gegeben hätte, die es würdig war, diese Nummer auf ihrem Rücken zu tragen, fand Tristan, wäre es Florence gewesen.

"Gibt's noch Pizza?" Als Tristan in den Raum kam, verstummten alle Gespräche und alle sahen ihn an, als wäre er als Türsteher zu einem Treffen des Geheimbundes gestoßen, bei dem er darauf Acht geben sollte, dass niemand Störendes eintrat (Das war abgesehen von der Tatsache, dass Tristan in dieser Vorstellung Türsteher war, gar nicht mal so abwegig. Denn die Mädchen aus dem Hockeyteam sahen in ihren Trikots und in Tristans farbloser Welt auf den ersten Blick eigentlich alle gleich aus. Als wären bei dem Treffen des Geheimbundes eine Horde gleichaussehender Mädchen losgeschickt worden, um ein verrücktes Experiment auszuprobieren). Tristan dachte, dass die Tatsache, dass er solche Gedanken hatte, vermutlich der Grund dafür waren, dass ihn alle seltsam fanden. Er wäre lieber der ältere Bruder gewesen, der in einen Raum kam und alle sofort verliebt losflüsterten und -kicherten.
Moment - was dachte er denn da? Er meinte, es wäre ihm nicht sonderlich lieber gewesen, aber wenn er die Wahl zwischen Aussätziger und Sex-Gott gehabt hätte, hätte er vermutlich Letzteres gewählt (Wie jeder andere auf diesem Planeten).
"Es gibt noch Käsepizza", sagte eines der Mädchen und Tristan erkannte in ihm auf den zweiten Blick Florence, die ihm einen Karton über den Tisch schob. Jetzt, wo er genauer hinsah, bemerkte er, dass auch die anderen Mädchen nicht gleich aussahen. Manche hatten Locken und einige spitzere Nasen als andere. Tristan griff nach dem Karton und ließ seinen Blick auf Florence ruhen.
Sie das, was er fragen wollte, vor allen anderen zu fragen, war völlig verrückt, fand er. Niemals würde sie darauf eingehen. Sie saß, ein Bein an die Brust gezogen, auf dem Stuhl und betrachtete ihn abwartend. Tristan bemerkte, dass er den Karton an sich presste wie neulich seine Physiknotizen, die ihm ein Junge aus seiner Parallelklasse hatte entwenden wollen. Natürlich hatte er sie sich schließlich geholt. Immerhin war Tristan Tristan. Und dieser Tristan kam gegen einen muskelbepackten Typen eben nicht an, auch nicht, wenn es um etwas Simples wie Physikhausaufgaben ging. Er war kein Türsteher.
"Kannst du kurz mitkommen, Florence?", fragte er todesmutig und zwei der Mädchen streckten die Köpfe zusammen und kicherten. Wenn Florence jetzt Nein sagen würden, dachte Tristan, wäre es das Beste, wenn er nach Australien auswandern würde und dort in der Kanalisation hausen würde, bis er die Sprache der Ratten sprach (Oder Florence durch mysteriöse Umstände starb).
Florence sah aus, als würde sie überlegen.
"Ach was", sagte Valerie. "Das hat doch Zeit, Tristan, oder?" Sie blickte ihn mit einem bittenden Blick an. Es war ihre Hockey-Mannschaft. Verdammt, warum musste ihr Tristan diesen einen Abend nehmen? Aber andererseits hatte er im Grunde nichts Peinliches getan oder gesagt. Sondern einfach nur gefragt, ob er Florence kurz enführen durfte. Gott - das klang sexuell.
"Ist schon gut", sagte Florence beruhigend zu Valerie. Tristans Schwester warf ihm einen Blick zu. "Macht aber schnell", sagte sie zu ihnen.
"Genau", sagte eines der fremden Mädchen. "Macht schnell." Sie kicherte anstößig.
"Halt deinen Rand, Sophie." Florence stand langsam auf und folgte Tristan dann über den Flur. "Danke", sagte Florence erleichtert, als sie Tristans Zimmer betraten und die Tür hinter sich schlossen. Florence sah sich argwöhnisch um, fand aber, dass es für jemanden mit Tristans Geschmack gut eingerichtet war.
"Wofür?" Tristan sah auf.
Florence nahm ihm den Pizza-Karton aus der Hand. "Dafür", grinste sie und schob sich ein Stück zwischen die Zähne. "Du weißt nicht, wie wenig diese Mädchen essen", stöhnte sie. "Laure hat ein Stück gegessen. Eins! Ich schaffe eine ganze Pizza."
"Und eine Pizza hat für gewöhnlich acht Stücke", bemerkte Tristan ehrfurchtsvoll. "Oder zwölf, wenn sie groß ist." Er nahm sich ebenfalls ein Stück und setzte sich dann neben Florence, die sich spontan auf seinen Teppich gesetzt hätte.
"Ich habe deine Geschichte gelesen", sagte er langsam, ohne auf das, was Florence gesagt hatte, weiter einzugehen. Nicht mal er schaffte eine Pizza. Und er war ein Junge. Es wäre ihm unangenehm gewesen, das Florence gegenüber zuzugeben.
"Sie ist gut", gab er zu. "Nicht perfekt, aber gut. Ich mag deinen Hauptcharakter, Merla. Sie ähnelt dir. Ich würde noch ein paar Absätze einfügen und sie dann abgeben."
"Aber eben hast du gesagt, sie wäre nicht gut genug?" Florence hingen ein paar Haarsträhnen ins Gesicht.
"Ich sagte, dass sie nicht perfekt wäre. Alle Vorschläge, die ich noch machen könnte, würden die Geschichte einschneidend verändern. Das will ich nicht, weil ich nicht weiß, ob sie danach noch so gut ist, wie sie es jetzt ist. Und eine Sache muss nicht perfekt sein, um gut zu sein. Manchmal wird eine Geschichte perfekt durch ihre Unperfektion. Und dadurch, wer sie geschrieben hat und wieviel Freunde darin liegt."
Florence zuckte die Schultern, als würde sie im Recht geben. "Ich wusste, sie ist gut", sagte sie.
Während sie aßen, redeten sie nicht.

"Du willst was?" Florence hatte verstanden, worum er sie gebeten hatte, doch sie glaubte, sich verhört zu haben.
"Dass du mir eine Geschichte schreibst." Tristan klang ernst.
"Du spinnst." Florence verkniff sich einen weiteren Kommentar.
"Keine normale Geschichte", erklärte Tristan und ließ sich von Florence nicht abwimmeln, die entschieden den Kopf schüttelte und die Arme verschränkte.
"Das kannst du vergessen, Schmalzlocke. Ich schreib doch nicht für jeden Trottel eine Geschichte." Florence machte einen entschlossenen Schritt Richtung Zimmertür. Doch ehe sie dadurch flüchten konnte, schlüpfte Tristan zwischen sie und Tür und versperrte den Ausgang.
"Du weißt schon, dass dein Zimmer im Erdgeschoss liegt und ich einfach aus dem Fenster steigen könnte, oder?" Florence stemmte eine Hand in die Hüfte. Es ärgerte sie, dass sie überhaupt so lange geblieben war.
"Beschreibe mir Farben. Bitte. Nur eine Geschichte." Tristans Augen flehten Florence förmlich an. "Du kannst gut schreiben und ich wünsche mir, Farben beschrieben zu bekommen, von jemandem, der sie Tag für Tag sieht." Tristan sah aus, als würde er gleich losheulen.
"Bitte."
Florence lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. "Wieso sollte ich das tun?", fragte sie.
„Ich kann sie nicht sehen", flüsterte Tristan – so leise, dass Florence es fast nicht gehört hätte.
"Oh", machte Florence und dachte an die vielen, bunten Blumen im Blumenladen. "Also hast du eine Rot-Grün-Schwäche?"
Tristan schüttelte den Kopf. "Nein", erklärte er. "Ich bin farbenblind."
„So richtig?"
„Ja, richtig farbenblind. Man kann nicht falsch farbenblind sein."
Florence ignorierte Tristans Kommentar und machte große Augen. „Wie ist das?", fragte sie und versuchte sich eine Welt ohne Farben vorzustellen.
"Farblos", erwiderte Tristan und lachte über seinen eigenen Witz. Florence fand ihn jedoch nicht witzig und machte Anstalten zu gehen.
"„Wir machen einen Deal", schlug Tristan vor. "Du kannst alle Fragen stellen, die du hast und im Gegenzug schreibst du mir eine Geschichte. Okay?"
Florence überlegte kurz. "Deal", schlug sie schließlich ein.
"Also", begann sie und Tristan sah, dass sie überlegte. Sie setzte sich auf die Schreibtischkante, die Arme noch immer verschränkt. "Was heißt das, farbenblind sein?", fragte Florence.
"Die Welt ist grau."
"Kann man keine Therapie machen oder irgendeine Pille dagegen nehmen?"
"Nee, so einfach ist das leider nicht. Farbenblindheit ist genetisch."
"Ich weiß nicht viel über Genetik", antwortete Florence und es klang entschuldigend.
"Musst du auch nicht", erwiderte Tristan. "Im Grunde ist es einfach: Es liegt in der Familie und wird eben an kommende Generationen vererbt – zumindest wenn man Pech hat, so wie ich."
"Und inwiefern schränkt es dich ein?" Florence schien nun fast interessiert.
"Na ja", sagte Tristan und dehnte die Wörter in die Länge. "Meine Augen sind ziemlich empfindlich. Außerdem ist meine Sehstärke nicht gerade die Beste und manche Berufe kommen halt nicht in Frage."
"Zum Beispiel?"
"Polizist beispielsweise. Oder Maler."
"Willst du Polizist oder Maler werden?"
"Eigentlich nicht."
"Was willst du dann werden?"
"Keine Ahnung. Nichts, wo man gut Farben erkennen muss jedenfalls."

FLORENCE

"Und er ist der Bruder deiner Teamkollegin?" Nina lachte. "Ist ja schon ein Riesenzufall, oder?"
Florence nickte zustimmend.
"Wie hast du es rausgefunden?", wollte Nina wissen. Und Florence erzählte ihrer Mutter, wie sie es herausgefunden hatte. Wie Tristan sie darauf angesprochen hatte, ob es sein Nachname war, den sie nicht kannte. Sobald sie ihrer Mutter den Nachnamen Keller  nannte, verdüsterte sich deren Miene.
"Etwa Marie  Keller?", fragte sie mit Nachdruck. Ihre Fröhlichkeit war von Nina abgefallen und Florence war, als würde es kühl im Auto.
"Ich weiß nicht, wie seine Mutter heißt", gab Florence zu, fröstelte und stellte die Klimaanlage aus. "Wer ist Marie Keller?"
"Eine Hochzeitsplanerin aus der Gegend. Früher hat sie manchmal Blumen bei uns gekauft."
Das war einer der Gründe, die Florence im Floristen-Alltag liebte. Es kamen Kunden, die mit Blumen einen geliebten Menschen verabschieden. Aber es kamen auch solche, die mit ihnen den Start in ein neues Leben feierten. Wie beispielsweise eine Hochzeit oder eine Geburt.
"Wie sehr magst du diesen Tristan?", fragte Florence' Mutter mit dunkler Miene.
"Ich finde, er ist ein interessanter Junge."
"Inwiefern?"
"Als Freund, Mama. Weiter nichts."
"Gut." Nina kniff die Augen zusammen. "Seine Mutter ist nämlich nicht ganz klar im Kopf."

B L U M E N M Ä D C H E NWo Geschichten leben. Entdecke jetzt