Warten

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Ein Zug hält am Bahnsteig. Ich schaue auf die Anzeige. Aber nicht seiner. Ich ziehe meinen Pullover am Ärmel etwas nach oben, um einen Blick auf meine Armbanduhr zu erhaschen. Er sollte schon hier sein. Schon seit zwanzig Minuten. Ständig schaue ich auf meine Uhr. Alles scheint wie in Zeitlupe zu verlaufen. Ich kratze mich nervös. Fahre mir durch die Haare. Ich bin nicht zum Warten gemacht.

"Entschuldigung, wissen Sie, wie viel Uhr es ist?", fragt eine ältere Frau.
Ja, weiß ich! Weil ich jede gottverdammte Sekunde auf die Uhr schaue! Weil jede Sekunde so lang dauert.
"Zwanzig nach Sieben", gebe ich, so ruhig wie möglich, von mir.
"Zwanzig nach Sieben?", wiederholt sie.
"Ja..." Ich atme tief durch. Ich zucke. Ich bin nicht zum Warten gemacht.

"Sie wirken so angespannt." Die Frau ist in Gesprächslaune. Ich nicht.
"Kann sein." Ich lege meinen Kopf in meinen Nacken und berühre die Glasscheibe hinter mir.
"Was ist los?" Die Frau gibt nicht auf.
Was will sie denn? Was will sie denn?
"Ach... er sollte schon hier sein." Bei diesen Worten kann ich mich seltsamerweise ein Stück weit entspannen.
"Oh, Sie wissen doch, wie das mit der Bahn ist. Der Zug wird bald kommen." Sie entfernt sich. Nett. Natürlich wird der Zug kommen. Aber er soll hier sein! Jetzt! Ich seufze. Ich bin nicht zum Warten gemacht.

Es beginnt zu regnen. Auch das noch. Ich sitze zwar unter einem Dach, aber ich hasse Regen trotzdem. Ich hasse das Geräusch von dem Plätschern. Ich hasse den Geruch, wenn es regnet. Allgemein - ich hasse Bahnhöfe! Ich hasse Züge. Ich hasse es, von fremden Leuten angequatscht zu werden! Ich hasse das Warten. Ich bin nicht zum Warten gemacht.

Mein Kopf glüht.

Ein Zug hält.

Seiner?

Ich stehe auf. Laufe ein paar Schritte durch den Regen. Mein Herz schlägt.

Dann legt jemand eine Hand auf meine Schulter. Wer ist es? Die alte Frau? Was will sie denn? Was will sie denn? Ich drehe mich um - er ist es.

Plötzlich ist mir der Regen egal. Meine Augen strahlen. Meine Haare kleben nass an meinem Gesicht, aber das ist mir egal. Plötzlich liebe ich den Regen. Und den Bahnhof. Und ich liebe ihn.

"Ich habe schon auf dich gewartet", sage ich.
"Hat sich das Warten gelohnt?", fragt er?
Ich nicke. Ich hasse das Warten. Ich hasse diese Zeitspanne, die sich wie Jahre anfühlt. Aber die Freude nach dem Warten ist immer die Schönste. Das Licht nach der Dunkelheit. Der Tagesanbruch. Das Warten hat sich gelohnt. Ich bin nicht zum Warten gemacht. Aber zum Lieben.

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Auch einer meiner ersten Texte. Ein bisschen peinlich, aber naja. Ich stehe dazu. Ich habe ihn übrigens an einem Bahnhof geschrieben, als ich gewartet habe.
Merkt man gar nicht...
Danke für's Lesen!
Esmé

Dancing on GravesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt