Die Wiese ist wunderschön. Saftiger grüner Rasen und dazwischen ganz viele Weidenblumen. Gänseblümchen, Löwenzähne, Wiesenschaumkraut, Butterblumen. Es schaut alles so bunt und leuchtend aus. Sanft verweht eine Windböe meine Haare. Voller Freude drehe ich mich in meinem roten Sommerkleid ein paar Mal im Kreis und falle lachend auf den weichen Rasen. Ich kann am Himmel ein Paar Schäfchen Wolken sehen. Eine sieht aus wie ein Dino, eine andere wie eine Blume. Hinter der Blumenwolke kommt die Sonne wieder hervor und scheint in mein Gesicht. Sie wärmt meine Haut und lässt alles noch ein wenig mehr strahlen. Ich bin glücklich und schließe meine Augen um ein wenig zu dösen.
Als ich sie wieder aufmache erschrecke ich ein wenig. Alles ist in ein helles Rot getaucht. Die Sonne ist schon fast weg. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Schulterzuckend richte ich mich also auf, reibe mir die Augen und strecke mich ausgiebig um den letzten Rest Müdigkeit zu verscheuchen. Hoffentlich machen sich meine Eltern keine Sorgen, wenn ich so lange weg bin. Aber das werde ich ihnen schon erklären, kann ja jedem mal passieren.
Na, bist du auch schon wach? Erschrocken drehe ich mich um. Hinter mir liegt ein junger Mann im Gras. Ich muss wohl zu sehr in Gedanken versunken gewesen sein um ihn zu bemerken. Langsam mustere ich ihn von oben bis unten. Er hat eisblaue Augen und längere braune Haare. Sie sind ein wenig vom Liegen im Gras zerstrubbelt und es steckt ein Grashalm darin. Schämisch grinst er mich an. Was ist denn nun, bist du vor Erstaunen stumm wie ein Fisch geworden? Das bringt mich zum Lachen. Ich und stumm? Als ob! Er setzt sich vorsichtig auf. Wenn du schon nichts sagst, dein Lachen gefällt mir. Es klingt schön. Und dann fängt auch er zu Lächeln an. Ich bin erstaunt. Das hat noch niemand zu mir gesagt. Schon gar nicht jemand, den ich gerade kennengelernt habe. Ich muss ein paar Mal blinzeln um die Röte aus meinem Gesicht zu bekommen.
Was war das? Hatte er bis gerade eben nicht blaue Augen? Ich schaue noch mal genau hin. Nein definitiv, sie sind braun. Vielleicht eine Lichtspiegelung? Verwirrt setze ich mich nun vollständig auf um ihn intensiv zu betrachten. Er sieht ganz normal aus. Nur hat er braune Augen. Seltsam. Kommst du mit zum Waldrand dort vorne? Er zeigt auf ein Paar Bäume hinter mir, die je länger ich hinschaue immer dunkler aussehen. Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten steht er auf, nimmt meine Hand und zieht mich auch mit hoch. Immer noch ohne meine Hand loszulassen geht er auf die Bäume zu. Und ich stolpere etwas verdattert hinterher. Seine Hand fühlt sich ein wenig kalt an.
Weil die Sonne mittlerweile schon weg ist, beginne ich ein wenig zu frieren. Um mich herum wird die Welt langsam immer dunkler und unheimlicher. Vielleicht hätte ich doch heim gehen sollen? Aber als ich nach vorne sehe, sehe ich den unbekannten Jungen wieder. Er scheint zu leuchten. Als wäre er noch ein wenig von der Sonne beleuchtet. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee noch zu bleiben. Und sonst kann ich immer noch nach Hause gehen wenn er mir gezeigt hat was er wollte.
Hinter mir raschelt etwas im Gebüsch. Zuerst ganz leise, aber dann wird es immer lauter. Ich will mich umdrehen, aber ich habe ein wenig Angst davor. Deshalb versuche ich den Jungen darauf aufmerksam zu machen. Ich ziehe leicht an seinem Arm, aber er scheint es nicht zu bemerken. Na gut, wahrscheinlich nur ein Hase. Oder vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet. Nein. Da ist es wieder! Nun drehe ich mich doch um. Für einen Bruchteil einer Sekunde sehe ich ein Paar leuchtend rote Augen aus dem hohen Gras aufblitzen. Dann sind sie wieder weg. Nun hat auch das Rascheln aufgehört. Mittlerweile bekomme ich doch Angst.
Ich stubse den Unbekannten noch Mal an, dieses Mal stärker. Er reagiert noch immer nicht. Allerdings redet er beruhigend auf mich ein. Keine Sorge, das war bestimmt nur ein Tier. Und wir sind ja gleich am Waldrand, dann kann nichts mehr passieren. Seine Stimme ist ein wenig tiefer und rau. Als wäre er langer Raucher. Auch seine Hand kommt mir nun eiskalt vor. Aber das kann daran liegen, dass es jetzt schon stockdunkel und kalt ist. Ich zittere auch schon. Aber sobald wir bei den Bäumen sind ist alles gut. Das hat er selbst gesagt.
Ich muss aufpassen, um nicht hinzufallen. Er zieht mich schon recht grob hinter sich her. Warum nur? Am Anfang war er doch so lieb und sanft. Wir gehen nun schon eine ganze Weile und es kommt mir so vor, wie wenn wir dem Waldrand kein Stück näher gekommen wären. Aber das kann doch nicht sein! Vorhin auf der Wiese hat das doch nur wie ein Weg von 5 Minuten ausgesehen. Um mein Herzklopfen zu beruhigen atme ich einmal tief ein und wieder aus. Währenddessen achte ich nicht auf den Weg und falle mit dem Gesicht voran auf den harten Boden. Das wird bestimmt viele Schrammen geben.
Langsam rapple ich mich auf, als mir eine Hand unter den Arm greift und mich ruckartig und nicht gerade angenehm auf die Beine zieht. Idiot! Warum achtest du denn nicht auf den Weg! Seine Stimme klingt beinahe wie ein Knurren. Verängstigt stolpere ich ihm weiter hinterher. Ich will nicht, aber ich habe auch Angst, dass er mich alleine lässt. Also weiter. Um mich herum beginnt es jetzt überall zu rascheln und ich höre das Tappen von Füßen auf dem harten Boden. Viele, viele Füße. Ob Tier oder Mensch kann ich nicht sagen. Aber es klingt gefährlich.
Plötzlich bleibt er stehen. Beinahe laufe ich in ihn, kann aber gerade noch rechtzeitig stoppen. Ich sehe mich um. Wir sind tatsächlich am Waldrand. Gerade eben waren wir doch noch so weit weg. Er zieht mich noch ein Stück weiter, hinter die Grenze aus Bäumen, dann bleiben wir endgültig stehen. Dreh dich um. Ich folge seiner Aufforderung und drehe mich in Erwartung meines schlimmsten Albtraums zögerlich um. Und ich sehe...
...nichts? Von hinten packt mich eine kalte Hand und wirft mich zu Boden. Ich sehe immer noch Richtung Waldrand und kann meinen Kopf nicht bewegen. Will um Hilfe schreien, aber bleibe stumm. Kann nichts tun. Dann werde ich grob wieder hoch gezogen und tiefer in den Wald gestoßen. Zwei eiskalte Hände verhindern gleichzeitig einen Sturz und eine Flucht. Ich höre das laute Atmen hinter mir. Nun werde ich in eine Mulde bei den Wurzeln eines Baumes gestoßen. Mir fehlt die Kraft aufzustehen und mich zu wehren, also bleibe ich einfach in der Mulde liegen. Bleib hier. Habe ich denn eine andere Wahl? Also bleibe ich hier. Schleichend kriecht mir die Kälte unter mein Kleid und ich fange an zu zittern. Dann döse ich vor Erschöpfung ein.
Meine Güte, was ist denn hier los? Mädchen, wach doch auf! Stöhnend wache ich aus meinem Halbschlaf wieder auf. Ich muss blinzeln. Es ist hell? Überall Sonne und der Wald schaut völlig friedlich aus. Hab ich so lange geschlafen? Dann endlich schaue ich die Person vor mir an. Ein älterer Herr mit Vollbart, einem Jägerhut und Gewehr unter dem Arm geklemmt kniet vor mir und schaut mich mit gerunzelter Stirn an. Was machst du denn ganz alleine mitten im Wald? Wissen deine Eltern, dass du hier bist? Ich will schon zu einem Erklärungsversuch ansetzen, besinne mich dann aber doch eines besseren. Wer würde mir so eine haarsträubende Geschichte schon glauben? Also sehe ich den Jäger stumm an. Schaue in seine braunen Augen. Die selbe Farbe wie der Junge gestern. Nein, warte. Wenn ich ganz genau hinsehe... da ist so etwas wie eine rote Wolke in der Iris. Erschrocken weiche ich ein Stück zurück. Der Jäger fängt zu grinsen an und entblößt seine spitzen Eckzähne. Schnell springe ich auf und versuche wegzulaufen. Aber er hält mich am Handgelenk fest und will mich zu sich ziehen. Ich werde panisch und versuche mich ruckartig aus seinem eisernen Griff zu befreien. Erfolglos. Er hält mich einfach viel zu fest. Nein! Dann rutsche ich auf dem feuchten Waldboden aus. Und da! Tatsächlich hat er mich losgelassen!
So schnell ich kann rapple ich mich wieder auf und laufe in die entgegengesetzte Richtung. Also weiter in den Wald hinein. Im Laufen schlagen mir Äste in mein Gesicht und Arme. Fast rutsche ich wieder aus, kann mich aber gerade noch rechtzeitig wieder fangen. Glück gehabt. Hinter mir höre ich ein entsetzlich lautes Keuchen und Schnaufen. Und dann Pfoten die auf den Boden trommeln. Panisch laufe ich schneller. Versuche den immer dichter wachsenden Bäumen auszuweichen und gleichzeitig mein Gleichgewicht zu halten. Ich kann nicht sagen wie lange ich laufe. Immer den feuchten Atem von Ihm im Rücken. Aber langsam verschwindet meine Kraft, meine Beine werden müde und ich werde immer unkonzentrierter.
Vor mir sind besonders viele Bäume und kleinere Äste. Angestrengt versuche ich mich möglichst schnell durch den Parkour aus Stämmen durchzukämpfen. Plötzlich steht eine Gestalt direkt vor mir. Mit voller Wucht laufe ich dagegen und bringe uns beide fast zum Umfallen. Gerade noch rechtzeitig fängt sich die Person wieder und hält auch mich damit aufrecht. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit über die Augen geschlossen hatte. Also öffne ich sie langsam wieder und sehe in das Gesicht des Jungen vom Vortag. Bevor ich auch nur irgend etwas sagen kann höre ich ein lautes Knurren von hinten. Oh nein! Der Jäger, den hatte ich völlig vergessen! Weglaufen ist jetzt keine Option mehr. Dafür ist er viel zu nahe. Also klammere ich mich verzweifelt an den Jungen und schließe meine Augen. Das also ist mein Ende? Hätte ich mir schon ein wenig besser vorgestellt.