Kapitel 1

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Verschiedene Arten Monster


          Der Anblick löste in ihr etwas Eigenartiges aus.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so ein Ding gesehen hatte- zumindest nicht in dem Teil, an den sie sich erinnerte. Doch der andere Teil schrie förmlich nach Flucht.

Vorsichtig lehnte Irina sich ein Stück an Kerim vorbei, um einen besseren Blick auf das Wesen zu bekommen, dass sich vor ihnen aufbäumte. Seine Haut war ledrig und grau und spannte sich nur in Fetzen über die ausladenden Schultern und die gekrümmten Beine. Es hatte einen haarlosen breiten Schädel, aus dem links und rechts zwei gigantische Hörner herausragten, sowie zwei milchige Augen, die an tote Fische erinnerten.
Mit einem Fletschen entblößte es hai-ähnliche gelbe Zahnreihen, alle spitz und krumm.

Kerim zog mit der einen Hand sein Schwert. Mit der anderen schob er langsam Irina wieder hinter sich, als fürchte er, dass sie zwischen die Fronten käme.
Als ob.
Er hatte eher Angst den gesamten weiteren Weg sein Hab und Gut selber tragen zu müssen.

„Verschwinde", zischte er sie aus zusammen gebissenen Zähnen an.
Irina sah sich um. Hinter ihnen tat sich eine weite Schlucht auf, deren zackige Ränder nicht zum Klettern einluden. Wenn sie nach links ausbrechen würde, könnte sie, mit ein wenig Glück, den Wald erreichen, aus dem sie gekommen waren.
Doch da sie bisher auf ihrer Reise nie Glück gehabt hatte, wäre es wahrscheinlicher, dass das Vieh sich auf sie stürzen und in Stücke reißen würde.

Kerim kümmerte es nicht, was sie hinter ihm ausführte. Er fixierte das Wesen, als wolle er es allein mit seinem Blick in die Knie zwingen.
Irina hätte ihm gerne gesagt, dass das kein Wolf sei, doch sie wollte ihn nicht aus der Ruhe bringen.

Stattdessen stellte sie erstaunt fest, wie sich nach und nach Ruhe in ihr einstellte.
Die Stimme in ihrem Kopf hatte aufgehört zu schreien und beschäftigte sich mit etwas anderem, zu dem sie selbst keinen rechten Zugang fand. Warum fürchtete die sich eigentlich nicht?

Vielleicht hielt man in ihrer Heimat diese Wesen ja als Haustieren, spottete sie still.
Sie wusste es nicht. Vor exakt vier Jahren hatte man sie vor einem kleinen Dorf in den Südbergen gefunden. Sie hatte mit dem Gesicht im Schnee gelegen und kaum geatmet. Das war der Moment, in dem ihre ersten Erinnerungen einsetzten und von da an hatte sie fast nichts mehr vergessen.
Man hatte sie aufgelesen und sie gesundgepflegt, ihr ein Heim und eine Aufgabe gegeben.
Hüten.
Sie sollte auf die Schafe achten, mehr nicht.
Klang zwar nach einem langweiligen Beruf, aber wenn sie nicht damals die Schafe auf die dämliche Hoch- Wiese gebracht hätte, wäre sie jetzt nicht hier.

Vor ihr machte Kerim einen behutsamen Schritt auf das Wesen zu. Noch einmal fletschte es die Zähne, ehe es sich gespannt duckte. Hoffentlich sprang es nicht auf sie zu. Vermutlich würde Kerim es aus der Schusslinie schaffen, aber sie ... es wäre ein Wunder, wenn sie rechtzeitig „Mist.", sagen würde.

Als wäre ein Ruck durch die Zeit gegangen schien sich alles zu beschleunigen. Kerim tat einen weiteren Schritt nach vorne, das Schwert fest mit beiden Händen umklammert, als das Vieh die Muskeln schnatzen ließ und sich mit all seiner Masse auf die zwei Menschen zu katapultierte.

Mist.

Der Junge duckte sich und hechtete vor unter dem Monster hindurch, während Irina mit offenem Mund einfach starrte.

Doppelt Mist.

Sie wollte nicht als Brei enden. Nicht nachdem sie mit diesem unfreundlichen Kerl schon das halbe Land durchquert hatte.
Mit einem Plumpsen ließ sie sich auf ihren Hintern fallen und rollte sich zurück auf den Rücken. Für einen Moment schien die Zeit wieder ins Trudeln zu kommen.

Wolf's Shepherd - Regenbogenaward EintragWo Geschichten leben. Entdecke jetzt