Kapitel 6

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Die Prinzessin aus Kaesh


           ‚Ich kann das nicht.'
‚Natürlich kannst du! Und es wäre schön, wenn du können würdest, bevor er aufwacht!'

Irina biss sich auf die Unterlippe. Das Mädchen hatte Recht. Sie hatte heute keine Wahl. Schicksalsergeben sandte sie ein stummes Gebet, zu welchem Gott auch immer sich für solche Situationen zuständig fühlte und streckte ihre Hand aus.

‚Wenn du nur einem Menschen davon erzählst, dass ich alten Männern in den Ausschnitt gegriffen-...'

‚Konzentrier dich! Wenn du ihn weckst, wie du sein Hexenmedaillon stiehlst, werde ich nie die Gelegenheit bekommen, dich damit aufzuziehen!'

Irinas Stirn war in angespannte Falten gelegt, als sie mit den Fingerspitzen über die haarige Brust des Königs strich, immer auf der Suche nach dem blutgefüllten Anhänger. Der war doch eben noch nicht so klein gewesen, dass man ihn in einem Naturpulli verbergen konnte!

‚Vielleicht liegt ja ein Schutzzauber darauf', mutmaßte das Mädchen, als sprächen sie über die Grasvorlieben der Schafe.

Irinas Hand stockte sofort.
‚Ist das dein ernst? Du lässt mich in das königliche Nachtgemach einbrechen und das Oberhaupt eines Landes befühlen und weißt nicht, ob da vielleicht ein Schutzzauber ist, der uns verraten könnte?'

‚Er könnte auch immer noch von alleine aufwachen', gab das Mädchen wenig entschuldigend zurück.

Mehr denn je wünschte Irina sich heimwärts auf ihren Berg im Norden, mit der kleinen Hütte und den aufdringlichen Schafen. Von ihr aus konnten sie alle ihren Pelz behalten, wenn die Herde sie nur wieder aufnehmen würde.

‚Stell dir doch vor er wäre ein Schaf, das du nicht wecken möchtest.'

Irinas leidender Gesichtsausdruck fiel in Ekel zusammen, wie ein Liebeszauber nach Ablauf der Frist.
Gerade wollte sie sich dafür bedanken, dass das Mädchen nun auch das Gefühl von Schafsfell für immer ruiniert hatte, da stieß ihre Fingerkuppe gegen etwas Kühles.

Ihr Herz machte einen Satz und flinker als sie sich selbst zugetraut hätte, zog sie den Anhänger aus dem Nachthemd des Königs hervor.

Der Glasflakon schimmerte rötlich in seiner goldenen Fassung, das Blut immer in Bewegung.

‚Das nächste Mal zerreißt du einfach nicht die Kette und wir müssen nicht das ganze Bett nach dem Anhänger durchsuchen', schlug das Mädchen vor, während Irina ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zog und das Medaillon vorsichtig einwickelte. Es war erstaunlich leicht für die vielen dünnen goldenen Ästchen, die es einfassten. Beides legte sie auf den Boden neben dem Bett und trat nach kurzem Zögern einmal kräftig drauf.

Das Knacken und Klirren des Glasgehäuses drang nur dumpf durch den Stoff, der sich sofort von dem Blut rot verfärbte.

Wenn es ein richtiges Hexenmedaillon gewesen wäre, hätten wir den freien Willen eines unschuldigen Mädchens gebraucht, um es überhaupt berühren zu können', das Mädchen klang höchst zufrieden mit ihrer Arbeit.

Erleichterung machte sich in Irina breit. Der entscheidendste Teil war geschafft. Sollten sie jetzt erwischt werden, blieb dem König nichts anderes übrig, als in Aktion zu treten und eine neue, funktionierende Kette anfertigen zu lassen.
‚Ich wäre mehr als nur Willens gewesen die Kette zu zerstören, wenn es nicht bedeutet hätte bei einem alten Mann auf Tuchfühlung zu gehen', erklärte sie entschieden.

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