Kapitel 4

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Wolfsfluch

„Bitte sag mir, dass du einen guten Grund hattest, dem alten Mann nicht zu verraten woher du diese Informationen hast.", Kerims Stimme war kaum mehr, als ein dumpfes Knurren durch die dicke Zellwand zwischen ihnen.
Irina lehnte mit dem Rücken dagegen und starrte stumm das schmale, vergitterte Fenster ihr gegenüber an, das sich dicht unter die Decke drängte und kaum genug Licht hereinließ, um auch nur die Tageszeit bestimmen zu können.

Es war das erste Mal seit .... Na ja einer langen Spanne des Schweigens eben, dass Kerim überhaupt einen Laut von sich gab. Zwischenzeitlich hatte Irina sogar angezweifelt, dass er noch da war.
Nicht, dass sie um ihn fürchtete. Sollte ihn jemand nachts aus der Zelle schleifen, um sich seiner zu entledigen, hätte sie das dank einer Flut an Schimpfworten mitbekommen.
Und selbst dann würde sie sich mehr Sorgen um den Entführer machen.

Bei all den Söldnern, Kopfgeldjägern und Skilii, denen sie in ihrem Leben nicht begegnet war, hatte sie genau den Tunichtgut gefunden, dessen innerer Kompass immer auf Ärger zeigte.
Kerim war zu Vielem fähig. Er konnte kämpfen wie ein Löwe und war gewitzt wie ein junger Fuchs.
Aber den Orientierungssinn hatte er von einem Opossum. Und sollte sich je in ihrem Leben einmal das Szenario ergeben, dass er an einem Pflock gefesselt wäre, ohne Aussicht auf Flucht, würde sie ihm das auch sagen!

„Redest du jetzt nicht mehr mit mir?", Kerim holte sie aus den Gedanken zurück und sie musste feststellen, dass sie bei der Vorstellung gelächelt hatte.

Seit wann legte er so Wert auf ihre Antworten?
Sie hatte das Mädchen in ihrem Kopf immer wieder gefragt, woher sie so viel über die Hexen wusste. Jedes Mal, wenn der Hausherr noch einen Schritt auf sie zugemacht hatte, sie an der Hand gepackt und geschüttelt hatte, hatte sie die Frage wiederholt und um eine Antwort gebettelt.
Aber was auch immer ihre Erinnerungen zurückhielten, sie gaben es ihr selbst jetzt nicht Preis.
„Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern", murmelte sie leise und hoffte, dass er es nicht hören würde. Schafe verstanden mehr, als Kerim.

Doch der saß genau auf der anderen Seite der Wand und hörte jedes Wort problemlos.
„Du weißt es nicht? So was kann doch nicht ohne Zusammenhang in deinem Kopf herumgeschwirrt sein! Ich bezweifle sogar, dass Kaeshs halber Beraterstab wusste, dass die Hexe gerade mal ein Kind war!", brauste er auf, doch seine lauter werdende Stimme beunruhigte sie in diesem Moment nicht. Was wollte er schon tun? Gegen die Wand springen?

„Und woher weißt du was der Beraterstab des Nachbarlandes weiß oder nicht weiß?", forderte sie stattdessen ungewohnt kühn.

Er schwieg.
Er schwieg so lange, bis sie sich sicher war, dass er ihre Frage wieder vergessen hatte.
„Ich war der Sohn einer dieser Berater.", er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr, „Du kannst aber unmöglich dagewesen sein. Ich war da und ich würde dich wiedererkennen. Also: Wer hat dir davon erzählt?" Er klang ungeduldig. Er war immer ungeduldig mit ihr.

Doch seine Worte lösten etwas anderes in ihr aus.
Ein flaues Gefühl im Magen, als wäre sie ertappt worden. Es kam ihr so fremdartig vor, dass sie sicher war: Es musste irgendetwas mit ihren Erinnerungen zu tun haben.
Hastig drehte sie sich auf die Knie, sodass ihr Gesicht nahe an den Steinen ihrer Trennwand war: „Du warst da? Hättest du mich nicht auf einfach vergessen haben?"

„Keiner vergisst die silbernen Augen einer Hexe."
Der Sohn des Burgherrn. Seine Stimme ließ Irina zusammenfahren. Sie klang so klar durch die dicke Holztür, als stünde er neben ihr in der Zelle, doch seine Schritte auf den Stufen musste sie verschluckt haben. Sie konnte nicht sagen, wie lange er ihr Gespräch schon belauscht hatte und das machte sie ängstlicher.

Wolf's Shepherd - Regenbogenaward EintragWo Geschichten leben. Entdecke jetzt