VIER

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Ich erlaube mir keine weiter Pause, sondern mache mich sofort auf den Weg zu Charlie. Hier ist heller Tag, vielleicht Mittagszeit. Die Schwestern sammeln gerade Tabletts ein. Bei Charlie waren sie schon. Mit ihrer gespielten guten Laune nehmen sie gefühlt jedes Geräusch mit, sobald sie die mehr oder weniger leeren Teller und Becher – übrigens allesamt aus Plastik – von den Patienten holen und weiter gehen. Wie eine Welle aus Fröhlichkeit, die alles überschwemmt und ein Meer aus Stille hinter sich lässt.

Als würden sie jegliches Leben einfach mitnehmen. Meine Güte, das sind keine Krankenschwestern sondern Dementoren!

Diesmal klopfe ich, bevor ich zu Charlie rein gehe. Ein paar Sekunden warte ich, erhalte aber keine Antwort. Wie überraschend!

„Hi", begrüße ich sie, sobald ich drinnen bin.

„Hallo", antwortet sie, oh Wunder, was mich dazu veranlasst, vorsichtig den Abstand zwischen uns zu verringern.

„Ich beiße nicht", sagt sie trocken. Oh Verzeihung, Ma'am. Ich dachte, sie hat vielleicht ein Problem damit, wenn andere ihr zu nahe kommen.

Ihr Haar hat sie mittlerweile zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Einige ihrer blonden Strähnen haben sich daraus gelöst. Sie macht sich nicht die Mühe, sie hinter ihre kleinen Ohren zu streichen.

Mir fällt wieder auf, wie hübsch sie ist. Sie wäre noch viel schöner, wenn ihre eigentlich so hellen Augen nicht verlernt hätten, zu strahlen.

„Da bist du wieder", stellt sie fest. Nickend wie ein schüchterner Schuljunge suche ich nach irgendwas, an dem ich mich festhalten oder an das ich mich anlehnen kann. Normalerweise benutze ich dafür mein Surfbrett. Hier steht nicht mal ein Stuhl oder ein Tisch. Nur Charlies Bett mit seiner weißen Wäsche und der Tropf, an den sie angeschlossen ist. Kein persönliches Teil von Charlie. Nicht mal ein Bild oder ein Kissen.

Sie ist vollkommen allein hier. Und offensichtlich hat sie auch nicht vor, es anders aussehen zu lassen.

„Wie...", setze ich an, aber die Frage, wie es ihr geht scheint mir nicht besonders taktvoll.

„Fantastisch", antwortet sie trotzdem. Wie oft man ihr die wohl schon gestellt hat?

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell wieder kommst. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass du dir bis heute Abend Zeit lässt, damit ich sicher sein kann, dass du kein Produkt von diesen scheiß Medikamenten bist."

„Wieso sind die scheiße?" Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich auf diese Frage komme. Sie ist mir einfach raus gerutscht.

Charlie verblüfft das offensichtlich genau so wie mich. „Weil sie alles verschwimmen lassen. Sie nehmen mir die Schmerzen", antwortet sie plötzlich sehr leise.

„Ist das nichts Gutes?"

Sie sieht auf, hält meinen Blick fest. „Nein."

„Wieso nicht?"

„Weil ich durch sie alles um mich herum verliere. Weil ich mich selbst verliere. Man fühlt sich wie in Watte gepackt, irgendwie schwerelos. Alles setzt aus. Du fühlst einfach nichts mehr. Und das ist noch viel schlimmer als Schmerz."

Und warum hast du dann versucht, dich umzubringen, Charlie? Wenn nichts fühlen noch viel schlimmer als Schmerz ist?

Weil ich sie das unmöglich fragen kann, nicke ich nur stumm.

Ihr muss etwas wirklich Schreckliches zugestoßen sein.

Auf einmal atmet sie tief durch, lacht ein seltsames, zittriges Lachen und sieht an die Decke. „So", beendet sie das Thema. „Schluss mit dem Geheule. Deswegen bist du nicht hier."

Die MörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt