Kapitel 1.- Limonade und Hindernisse

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Standort: Bradshaw, West Virginia-USA

Als Leo den Motor des alt Volvos, der vermutlich mehr erlebt hatte als ich, startete, erklang ein ohrenbetäubender Lärm. Meiner Meinung nach gehörte das Ungetüm von Auto, schon lange in die Werkstatt, aber irgendwie gingen meine Kommentare in meiner „Familie" immer unter.War auch nicht verwunderlich. Ich lebte in einer Zweckfamilie. So etwas wie Gefühle oder gar Liebe waren bei uns Fremdwörter. Das letzte Mal, dass meine Mum zu mir sagte dass sie mich liebte, war wahrscheinlich als ich vier war. Seit dem nichts mehr. Keine Umarmungen, keine Küsse, nichts. Nur verblassende Erinnerungen an Zuneigung und eine Mutter, der wohl die Whisky-Flasche an der Hand festgewachsen war. Ich hatte es irgendwann akzeptiert. Ich wusste nicht warum, aber solange sie mich alle tun ließen was ich wollte war es erträglich. Natürlich maulten meine Geschwister immer, dass ich nie wirklich an den „Familienaktivitäten" beteiligt war, allerdings unternahm niemand etwas dagegen. Beiläufiges Gemecker war die Sache somit wert.

Langsam rollte das Ungetüm die Einfahrt hinunter, während Mike sich mit Leo über irgend ein Mädchen unterhielt, das wohl schon mit jedem im Bett war, außer logischerweise mit Leo. Was anscheinend ein schweres Vergehen war, da sich doch jede und JEDER nach einer Nacht mit dem Ex-Quaterback wünschte. Abigail, sie hasste diesen Name, darum Abi, hatte mal wieder nicht mit Make-Up gespart und schaffte es mit einer ihrer Plastikfreundinnen zu telefonieren und währenddessen ihren Lippenstift perfekt aufzufrischen. Der Geruch ihres billigen Parfums lag in der Luft, welcher zum Glück besser war als der Gestank, der sonst im Auto herrschte.

Still blickte ich aus dem Fenster und betrachtete, wie jeden Morgen, die vorbeiziehenden Bäume und die vereinzelten Häuser, welche zumindest das Zeichen gaben, dass jemand diese trostlose Gegend von Bergen bewohnte.

Bradshaw hat nicht viele Besonderheiten. Bis auf zwei. Erstens: Was in Bradshaw passiert, bleibt in Bradshaw. Und an diesen Grundsatz hielt sich jeder. Ausnahmslos.  Zweitens: Gipsys bzw. Zigeunerfamilien bildeten die unterste Schicht. Wie man sich wohl denken konnte war ich in einer dieser verdammten Gipsy-Clans gefangen.

"Jane, was glotzt du so blöd?", riss mich Noah aus meinen Gedanken. Er war wohl der nervigste und respektloste Bruder auf diesen Planeten.

"Hmmm...", gab ich ihm als Antwort und blickte auf die Fahrbahn. So sehr ich es auch versuchte, ich schaffte es nicht mit meinen Geschwistern zu reden. Egal was es war, ich wurde so oder so nicht akzeptiert. Und deswegen wurde es Zeit zu handeln. Wenn mich nicht ein paar Kleinigkeiten behinderten würden.

"Fuck! Jane, wie heißt die Kleine, mit der ich letztens aus war?!", sagte plötzlich Mike vom Vordersitz.

"Alter, sei mal leiser. Checkst du nicht, dass ich telefoniere, du Idiot?"

"Halt die Fresse!", schrie Leo und bald herrschte wildes Geschrei bestehend aus Beleidigungen und Vorwürfen, während ich zu beten begann dass ich nicht an einem Autounfall starb.  Ein immer wieder explodierendes Pulverfass, das waren sie in meinen Augen. Sogar der Kleinste von uns neun fing an mit diesen aggressiven Wutausbrüchen, auch wenn ich das verhindern wollte, damit wenigstens einer noch in der Familie sich nicht selbst verurteilte. Doch irgendwie kam ich zu spät, denn sogar er schien mich zu hassen.

Als der zerbeulte Volvo endlich vor der Schule hielt und ich mich trotz der nervigen Blicke, die uns automatisch immer zugeworfen worden, aus dem Auto befreite, sagte ich der Höflichkeit wegen Tschüss zu Leo, der nun zu seinem Glück, an einem Ort ohne nervige Teenager durfte. Zur Arbeit ins Postamt.

Noah und Abi wurden sofort von ihren Cliquen aufgesogen und betraten tratschend und plaudernd das Gebäude der River View High School. Kaum war das Ungetüm, dann auch nicht mehr zu sehen, marschierte Mike auch schon in Richtung Wald statt Schule. Sein Argument dazu war, dass er Montage hasste. Einfach und doch überzeugend. Seufzend verschwand ich schließlich im Schulgebäude und hoffte, dass der Tag ein schnelles Ende finden würde.

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