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Irgendwie ging mir Gabe nicht aus dem Kopf. Auch in den folgenden Tagen war er im Unterricht und während ich nur halbherzig Geralds Vorträgen folgte und mir Notizen machte, schweifte ich immer wieder mit den Gedanken ab und schaute unauffällig zu Gabe. Er tat nichts auffälliges, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er anders war als der Rest. Ich konnte diese Vermutung nicht erklären, aber wenn ich ihn anschaute, hatte ich das Gefühl, dass er mir ähnlicher war als die anderen Bewohner des Zentrums. Er starrte ab und an in die Luft, genau wie ich es tat, wenn ich grübelte, wie ich es auch jetzt tat, doch vielleicht taten die anderen das auch und ich hatte es nur noch nicht bemerkt, weil ich ihnen zu wenig Beachtung schenkte.

Vielleicht hatte er tatsächlich auch Phantasie, genau wie ich, doch eigentlich war das beinahe unmöglich. Diese Krankheit war so selten, dass es während ich lebte keinen einzigen Fall in unserem Zentrum gab, zumindest keinen, der an die Öffentlichkeit kam. Doch vielleicht war das genau der Grund. Vielleicht gab es doch Menschen wie mich und sie versteckten sich, genau wie ich. Vielleicht gab es mehr Menschen mit Phantasie, als wir alle dachten. War es nicht möglich, dass viele Leute, oder zumindest ein paar auch im Speisesaal alleine saßen und heimlich Gesprächen lauschten um sich nicht alleine zu fühlen, sich jedoch niemals freiwillig unterhielten? Leute, die sich vorstellten wie das Leben wäre, wenn es nicht so wäre, wie es hier war? Dieser Gedanke brachte meine bisherigen Annahmen vollkommen ins Wanken und ich beschloss von nun an Ausschau zu halten nach anderen, die allein saßen oder Löcher in die Luft starrten, nach Leuten wie mir.
Wieder kam mir Gabe in den Sinn. Ihn würde ich besonders genau unter die Lupe nehmen. Vielleicht hatte ich endlich jemanden gefunden mit dem ich mich auch mal unterhalten könnte und der im Speisesaal mit mir aß. Ach Unsinn! Selbst wenn es so wäre, würde ich niemals zu ihm gehen. Ich wäre viel zu feige und hätte Angst, dass es irgendjemandem auffiele. Am Ende würde man noch aufdecken, dass wir Phantasie hatten.
Ivy, ich ermahnte mich innerlich selbst, Gabe hat keine Phantasie, versuch gar nicht erst die irgendetwas einzureden! Und meine innere Stimme hatte ja Recht. Es war unsinnig über etwas nachzudenken, dass wahrscheinlich nicht mal der Fall war. Nicht nur unsinnig, es war ungesund!

Am Abend im Speisesaal setzte ich mich mal wieder alleine hin und ohne es bewusst zu merken schaute ich mich suchend um. Ich suchte ihn, Gabe, denn ich wollte wissen mit wem er zusammen saß, schließlich war er neu in unserem Sektor. Und nachdem ich die Suche schon fast aufgegeben hatte, in diesem riesigen Raum würde man ja doch keine einzelne Person finden, sah ich seine strubbeligen, kupferroten Haare. Er saß tatsächlich alleine an einem Tisch und aß seine Abendmahlzeit. Bestimmt ist er bloß alleine, weil er noch niemanden kennt, sagte ich mir und vermutlich hatte ich damit Recht. Wahrscheinlich wollte er sich niemandem aufdrängen und wartete darauf, dass er ein paar Leute während der Ausbildung oder Freizeitaktivitäten kennenlernt.
Ich aß auf und ging in mein Zimmer, irgendwie genervt, weil Gabe mich ständig zum Nachdenken brachte. Warum konnte er nicht einfach in seinem Sektor bleiben und ich mein Leben weiter leben wie ich es vorher gemacht hatte. Ich war immer eine aufmerksame Schülerin, doch seit er in unserem Kurs saß, wurde ich ständig abgelenkt. Ich wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass ich anders war, ich war mir dessen bewusst genug und seine Ähnlichkeit erinnerte mich immer daran, wenn ich ihn sehe. Es nervte mich, dass ich diese Tatsache nicht einfach verdrängen konnte wie sonst auch.

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In der folgenden Woche beobachtete ich, genau wie ich es mir vorgenommen hatte, meine Mitschüler. Ich wollte unbedingt wissen, ob es normal war in die Luft zu starren oder abgelenkt zu sein während den Unterrichtsstunden, doch zu meiner Enttäuschung konnte ich keinen einzigen von ihnen bei kleineren Träumereien erwischen. Langsam wurde mir bewusst, dass ich mir eingestehen, dass mit Gabe, genau wie mit mir, etwas nicht stimmte. Doch irgendwie wollte ich das nicht glauben. Ich konnte nicht erklären warum aber irgendwie störte es mich, dass er so war wie ich. Ich war so sehr daran gewöhnt, die einzige zu sein, die einzige komische, die einzige die immer alleine war und irgendwie mochte ich es fast, diese Einsamkeit- Ich kannte es nicht anders und ich hatte mich damit angefreundet. Doch war man noch alleine, wenn es jemanden gab, der genauso war? War ich noch alleine, wenn noch jemand anders sich vielleicht die gleichen Gedanken macht, die ich mir mache?

Ich nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit darauf anzusprechen. Natürlich würde ich nicht zu ihm gehen und sagen: „Hey Gabe, ich bin Ivy. Hast du Phantasie, ich nämlich schon". Ehrlich gesagt war ich noch nicht ganz sicher wie ich es anstellen würde ihn darauf anzusprechen und eigentlich war ich mir auch noch nicht sicher, ob ich mich überhaupt trauen würde zu ihm zu gehen, denn ich wusste ja selbst, dass es sehr riskant war. Was war wenn ich mich getäuscht hatte und er ganz normal war?. Vielleicht würde er mich verraten und dann hatte ich ein wirkliches Problem.

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Die Tage vergingen und ich war mir immer noch nicht sicher, was ich tun sollte. Ob ich etwas tun sollte. Doch irgendwie hatte sich dieser Gedanke so in meinen Kopf gebrannt, dass ich das Gefühl hatte, es tun zu müssen. Ich musste es tun. Und als ich ihn mal wieder im Unterricht anstarrte, beschloss ich mich einfach beim Abendessen zu ihm zu setzen. Was war schon dabei? Jeder normale Mensch tat das. Aber ich hatte einfach keine Idee worüber ich mit ihm reden sollte und malte mir diverse Szenen aus, die möglich wären. Möglicherweise würden wir uns die ganze Zeit nur anschweigen und wäre uns beiden nur unangenehm oder er würde einfach weggehen, wenn ich mich zu ihm setzte. Vielleicht würde ich aber auch viel zu viel über mich verraten und mich oder sogar uns beide in Schwierigkeiten bringen oder ich würde nur seltsam rumdrucksen und keinen gescheiten Satz rausbringen, bis ich schließlich aufgab und mich doch woanders hinsetzte. Hör auf damit, ermahnte ich mich. Was war schon dabei? Es war doch wohl nicht so schlimm mit jemandem zu Abend zu essen! Ich nahm mir also fest vor es heute durch zu ziehen und versuchte dem Unterricht wieder zu folgen.

Wir nahmen immer noch die Geschichte der Entwicklung der Menschen durch und heute erklärte Gerald uns die verschiedensten Phänomene, die bei den Menschen damals auftraten. Er redete von Emotionen, die wir heute nicht mehr verspürten: „Früher verspürten die Menschen Emotionen. Man könnte sie vergleichen mit Gefühlen, die auch wir verspüren, allerdings waren sie ungezügelter und taten die seltsamsten Dinge, wenn sie sie verspürten. Die stärkste Emotion war damals die sogenannte Liebe. Man kann sie vergleichen mit Zuneigung, allerdings fühlten sich meistens Mann und Frau zueinander hingezogen. Doch man unterschied zwischen verschiedenen Arten zu lieben", das letzte Wort sprach Gerald ganz seltsam aus und verzog schon beinahe angewidert das Gesicht, „Mütter liebten ihre Kinder, Freunde liebten einander auf einer ganz anderen Ebene und die Liebe, von der unsere Gefühle am weitesten entfernt sind ist die Liebe zwischen Personen mit unterschiedlichen Geschlechtern. Wir können froh sein, heute nicht mehr unter dieser Emotion zu leiden, denn die Menschen, die diese verspürten taten die seltsamsten Dinge. Sie gingen Partnerschaften miteinander ein, wie auch eure Eltern eine Partnerschaft miteinander eingegangen sind. Doch sie suchten sich nicht immer den richtigen Partner und sie endete in einer Trennung. Wenn zwei Menschen sich auf eine solche Weise liebten, waren sie ineinander verliebt und hatten Bedürfnisse, die verstörend waren. Sie hatten den Drang nach körperlichem Kontakt und verkehrten miteinander. So zeugten die Menschen damals ihre Kinder. Die Liebe überstieg den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung und somit war sie eigentlich überflüssig. Heute müssen wir nicht mehr darunter leiden und können immer rational handeln ohne von Emotionen beeinflusst zu werden". Hier beendete Gerald den Unterricht: „Nächste Stunde besprechen wir weitere Emotionen und bitte wiederholt den Stoff von heute noch einmal vor der Stunde!".
Wir verließen den Raum und ich ging in mein Zimmer, wobei ich zum ersten Mal bemerkte, dass Gabe fast den gleichen Weg hatte. Er bog nur einen Gang vor mir ab, was hieß, dass unsere Zimmer recht nah beieinander lagen. Komisch, dachte ich, ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. Vermutlich lag das daran, dass er geradezu aus dem Unterrichtsraum rannte, sobald der Unterricht beendet war und schon in seinem Zimmer war, wenn ich gerade erst los lief. Bevor er um die Ecke bog, hatte ich kurz den Eindruck, dass er noch einmal kurz den Kopf zu mir drehte, und damit festigte sich mein Entschluss heute mit ihm zu sprechen.

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Ein eher spontanes Kapitel... Ich hoffe, dass es nicht zu langweilig geworden ist!

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