Kapitel I

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Stumm starrte ich auf die Papiere in meiner Hand, ordentlich abgeheftet in einer Mappe:
Deborah Juliette Patton, mein Name, an welchen ich mich noch zu gewöhnen hatte. Er klang so gar nicht nach mir. Wobei, was klang schon nach mir, wenn ich nicht einmal wusste, wer ich war.
Es war wohl ein sichtlicher Schock für die beiden Frauen, meine Mutter, sowie meine ältere Schwester Cheryl, dass mein Gedächtnis erhebliche Lücken aufwies- was davon wieder zu mir zurückkehren würde, lag in weiter, unwissender Ferne.  Und vor allem auch, wie lange sich dieser Prozess ziehen würde.
Das Ganze lag nun zwei Wochen zurück und die Ärzte hatten es erlaubt, dass ich entlassen werden konnte, da mein Zustand soweit stabil war.

Meine Augen glitten aus dem Fenster des fahrenden Wagens. Es hatte begonnen zu regnen und stetig prasselten Regentropfen auf die Scheiben, um dort zu zerschellen und sich im Fahrtwind davon tragen zu lassen. Verwischt und unwirklich wie in einem Traum flogen die Konturen von Wohnsiedlungen vorbei und verbanden sich mit dem Grün der Bäume und Sträucher am Wegesrand zu einem einzigen, abstrakten Wirrwarr. Hin und wieder blitzte ein bunter Regenmantel in der grauen Umgebung auf oder ein breiter Regenschirm schob sich über den Zebrastreifen.
Ruckelnd kam der Wagen nach einiger Zeit zum Stehen und die Tür neben mir wurde klackend geöffnet.
Missmutig starrte ich den Rollstuhl davor an.
Unglücklicherweise war das Rückenmark im Bereich der Lendenwirbel beschädigt worden, sodass meine Beine mir immer wieder wie flüssiges Gummi zu zerfließen drohten- begleitet von einem seltsamen Taubheitsgefühl, als würden diese Körperteile nicht mehr zu meinem Körper gehörig sein.  Ich war zwar medizinisch nicht unbedingt bewandert, aber selbst ich hatte das Ausmaß der Verletzung erkennen können. Wahrscheinlich würde ich nie wieder laufen können. Mit ziemlicher Sicherheit, sollte nicht ein Wunder geschehen.
Als sich mir sogleich helfende Hände entgegenschoben, schob ich diese resolut zur Seite.
"Ich kann das schon selbst", brummte ich und hievte mich Stück für Stück weiter aus dem hinteren Teil des Wagens, bis ich etwas unsanft auf der Sitzfläche des Gefährts mit Rollen landete. Ich spürte den traurigen Blick meiner Mutter auf meiner Gestalt- musste es für sie nicht noch schlimmer sein, als für mich? Sie kannte mich zuvor und würde nun mit dem Wissen weiterleben, dass es nie mehr so sein würde wie früher.

Das Haus vor uns schien ein Mehrfamilienapartement zu sein. Eine raue Außenfassade rankte sich daran in die Höhe, von den Abgasen der unzähligen vorbeifahrenden Wagen leicht gräulich beschmutzt, aber dennoch mit einem gewissen Charme aufgrund der vielen kleinen Erker und rungehaltenen Fenster. Fast wirkte es wie ein kleines Schloss aus längst vergangenen Zeiten auf mich. Auf jeder Etage lächelten einem Blumen entgegen, welche in Tontöpfen auf den kleinen Balkonen gezüchtet wurden oder hier und da konnte man Kinderspielzeug oder Sitzgarnituren entdecken.
Die kleinen Kiessteine auf dem geradlinigen Weg zum Hauseingang knirschte unter den Rädern des Rollstuhles, während plätschernd die Regentropfen ringsherum des bunten Regenschirmes über meinem Kopf auftrafen.
Auch im Inneren wirkte das Haus trotz seiner Einfachheit angenehm: Dunkles Holz verkleidete die Treppen und die Wände bis zur Hälfte. Die Stiegen waren leicht ausgetreten von den unzähligen Füßen, welche dort bereits hinaufgestiegen waren. Etwas fehl am Platz wirkte der moderne Aufzug in der hinteren Ecke des Eingangsbereiches, welcher vor allem älteren Menschen den erschwerlichen Fußmarsch ersparen sollte.
Meine Augen verfolgten das stetige Ansteigen des Gefährts, während immer wieder beim Erreichen eines neuen Stockwerks die jeweilige Zahl auf dem Feld aufblinkte. Ruckelnd schwangen die Türen zur Seite und gaben den Blick auf einen kleinen Flur frei, auf welchem lediglich eine Wohnung gelegen war.
Es fühlte sich seltsam an zu wissen, dass dies mein Zuhause zu sein schien.

Die Wohnung lag im Dachgeschoss des Wohnhauses, verfügte über abgeschrägte Ecken und vier Zimmer plus Küche und Badezimmer.
Schon direkt im Flur fielen mir die unzähligen Bilderrahmen an der Wand auf. Sie hingen über der edel wirkenden Kommode aus Eichenholz, neben der Garderrobe, in der Nähe jeder Tür. Und überall grinsten mich fremde Gesichter an. Manche schienen alt zu sein, andere erst ein paar Monate alt, hier und da lächelten glückliche Kindergesichter in die Kamera, dann wieder Erwachsene, Heranwachsende oder einfach Tiere. Vorsichtig streiften meine Finger einen der Bilderrahmen auf welchem ein kleines braunhaariges Mädchen mit zwei dicken geflochtenen Zöpfen zu sehen war, welches mit einem lückenhaften Grinsen stolz ein Fahrrad präsentierte. Daneben knieend befand sich ein dunkelhaariger Mann mit auffallend kantigem Gesicht. Der strenge Zug um die Lippen wurde von einem herzlichen Lächeln besänftigt, mit welchem er auf seine Tochter herabblickte.
"Süß, nicht? Da warst du gerade erst 5 Jahre alt und Dad hat fest darauf bestanden dir das Fahrradfahren beizubringen", sinnierte Cheryl, welche gerade neben mir stoppte und das von mir betrachtete Bild in die Hand nahm. "Ich vermisse ihn, sehr."
Mit diesen sehnsüchtigen und melancholischen Worten stellte sie den Bilderrahmen wieder zurück an seinen Platz und deutete den Flur entlang auf eine angelehnte Zimmertür.
"Dort geht es zu unseren Zimmern. Soll ich dich hinbringen?"
"Nein, es geht schon." Ich schüttelte verneinend den Kopf und blickte sie kurz an: Ihre grünen Augen, die helle, rosige Haut und das dunkelbraune, wellige Haar, das ihr knapp auf die Schultern fiel. Da stand sie, meine Schwester, und kam mir so weit entfernt vor, wie noch nie. Ruckartig wandte ich den Blick ab und rollte das Gefährt über die braunen Bodendielen hinweg zu der angedeuteten Tür.
Kurz zögerte ich, hatte ich doch keine Ahnung, was mich dahinter erwarten würde.
Die Tür schwang lautlos durch den zarten Stoß nach innen auf und gab den Blick auf einen kleinen Raum frei. Ein einzelnes Bett stand an der Längsseite des Raumes, angelehnt an die cremefarbene Tapete. Irgendwie strahlte der Raum Leere und Einsamkeit aus. Keine Fotografien oder Poster dekorierten die Wand, kein Bilderrahmen oder Buch den Nachttisch. Lediglich eine Reisetasche stand auf dem ordentlich gemachten Bettbezug und enthielt mein Hab und Gut.
"Du warst lange nicht mehr hier. Willkommen zu Hause", murmelte meine Mutter von hinten und legte mir vorsichtig beide Hände auf die Schultern.

Second ChanceWhere stories live. Discover now