Kapitel IV

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Wie sich herausstellte war besagter Keylan ein Psychologiestudent an der städtischen Universität und brauchte neben zahlreichen Seminaren und Vorlesungen auch unterschiedliche Praktika. Und eben dieses absolvierte er genau hier und genau bei meinem behandelnden Arzt.
Im Gegensatz zu den meisten Leuten, mit denen ich seit meinem Unfall in Kontakt gekommen war, behandelte er mich nicht ganz so, als sei ich eine kostbare Glasware, welche bei jedweden falschen Blicken alsbald in sich zusammenfallen würde. Allerdings war er ein gesprächiger Mensch und immun gegen jedewede Abschottung wie es schien. Demnach versorgte er mich jedes Mal aufs Neue mit für mich wenig interessanten Anekdoten aus seinem Alltag und im Umgang mit den anderen Patienten, warf hier und da den ein oder anderen Witz ein und ließ sich keineswegs davon beirren, dass er förmlich eine Alleinunterhaltung führte.
Anfänglich war ich ziemlich genervt von ihm und hatte mehrfach versucht ihn darauf aufmerksam zu machen, doch jedwede Kommentare meinerseits ignorierte er gekonnt. Irgendwann hatte ich es mit einem Seufzen aufgegeben und wurde stattdessen zum stillen Zuhörer seiner Geschichten. Immerhin brachten seine farbenfrohen Ausschmücken etwas Abwechslung in den grauen Alltag meines Lebens.
Und irgendwann hatte er mir grinsend einen Zettel in die Hand gedrückt, worauf er in erstaunlich ordentlicher Schrift seine Handynummer gekritzelt hatte.
"Falls du mal Redebedarf haben solltest."
Ich konnte nicht sagen, ob ich nun erstaunt oder entnervt darauf reagieren sollte, steckte den Wisch also lediglich kommentarlos in meine Hosentasche.

Es war bereits einige Zeit vergangen, seit ich zum ersten Mal durch die Türen der Praxi gegangen war und draußen hatten die Bäume endgültig ihr Blätterkleid abgelegt. Bleiern und Grau hingen die Wolken vom Himmel herab und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen, riss an meiner Jacke und dem eng um den Hals geschlungenen Wollschal, kaum dass ich das Schulgebäude verlassen hatte. Für die nächsten Tage hatte sich Schnee angekündigt und die deutlich abgekühlten Temperaturen ließen keinen Zweifel daran, dass die restlichen Novemberwochen von stetem Weiß begleitet sein würden. Müde blinzelte ich gen Himmel und stopfte zeitgleich die braunen, wirren Strähnen unter die Mütze, welche mir durch den Wind immer wieder in mein Sichtfeld getrieben wurden.
Die Nächte waren immer noch nicht besser und der ein und selbe Albtraum riss mich wieder und wieder aus dem Schlaf. Ich konnte mich schon gar nicht mehr daran erinnern wie eine erholsame Nacht wohl sein musste. Mehr als vier Stunden Schlaf fand ich sehr zu meinem Bedauern dadurch nie. Hinzu kam außerdem die stetig wachsende Frustration über den fehlenden Fortschritt in nahezu all meinen Sitzungen. Weder hatte ich es geschafft mich an irgendetwas vor dem Erwachen im Krankenhaus zu erinnern, noch auch nur einen Deut Bewegung in meine Glieder zu bekommen, obwohl ich tagtäglich alle mir aufgetragenen Übungen ausführte. Momentan schien ich an einem Punk angekommen zu sein, an welchem ich wohl mit dem vorherigen Leben abgeschlossen hatte und bereit war meine jetzige Lage einfach zu akzeptieren.  

Heute wollte Cheryl mich abholen, doch ich konnte den roten Wagen nirgends ausmachen. Da ich heute nach Schulschluss noch an einer Sitzung meiner AG teilnehmen musste, war es bereits spät und die meisten Schüler und Lehrer hatte das Gelände schon vor längerer Zeit verlassen. Nur noch wenige Autos standen auf dem asphaltierten Parkplatz vor der Schule und lediglich in zwei Fenstern im ersten Stock brannte noch Licht.
Die Tage waren auch deutlich kürzer geworden, sodass es bereits früh dunkel wurde und die ersten Straßenlaternen erhellten bereits den dämmrigen Weg. Langsam rollte ich den Rollstuhl den kleinen Abhang zum Schultor hinab, welches klappernd im Wind hin und her schwang und quietschend an der Verankerung herumrüttelte. Ich hatte beschlossen meiner Schwester etwas entgegenzukommen, um mich etwas in Bewegung zu halten und nicht fröstelnd in der Kälte zu verharren. Vereinzelt knirschten kleine Kiesel unter den Reifen des Rollstuhls und kullerten leise ploppend zur Seite weg. Außer dem Pfeifen des Windes war es still, kurz zerschnitt ein lautes Krähen eines Rabens diese, doch dann verstummte die Umgebung wieder. Die Landschaft schien sich auch bereits der kommenden Winterzeit angepasst zu haben und wirkte träge, wie in einem Halbschlaf, langsam und unwirklich.

Angrenzend an unsere Schule befand sich ein kleiner Spielplatz, welcher vor allem im Sommer ein beliebter Anlaufpunkt für Familien war und oftmals erfüllt mit heiterem Kinderlachen. Jetzt lagen die Gerätschaften verwaist da, lediglich leise durch die Kraft des Windes hin und her bewegt. Gedankenverloren schlug ich den Weg dorthin ein und steuerte geradewegs auf die schwingenden Schaukeln zu, ehe ich mich vom Inneren des Rollstuhles auf eine dieser zog und mit klammen Fingern die Ketten umklammerte.
Ich mochte Spielplätze. Sie hatten etwas Belebendes und dennoch wirkten sie zeitgleich beruhigend auf einen ein, unschuldig und einladend. Auf einigen der Fotos, welche zu Hause an der Wand hingen, war ich auch auf einem Spielplatz gewesen, wie man an der Rutsche dahinter erkennen konnte, und offenbar war ich dort glücklich.
Langsam kroch die Kälte des Metalls in meine Fingerspitzen und hinterließ ein unangenehmes Prickeln. Hätte ich doch nur heute Morgen meine Handschuhe nicht auf meinem Bett liegen lassen. Nachdenklich beobachtete ich, wie meine Hand sich leicht rot färbte von der Kälte, ehe mein Blick weiter in die Ferne schweifte und an dem Sandkasten am Rande hängen blieb.
Und plötzlich war da etwas. Erst verschwommen, kaum zuzuordnen und schwer zu ergreifen. Immer wieder blitzten Szenen auf und verschwanden, ehe man das Puzzel zu einem Bild zusammenfügen konnte.

Ein kleines Mädchen. Alleine, am Rand des Spielplatzes, während die anderen Kinder alle mit jemanden zusammen dort zu sein schienen. Ein Fußball. Ein Schmerz. Tränen. Ein kleiner Junge mit einem breiten Grinsen. Eine Entschuldigung. Eine Freundschaft. Ein unglaublich warmes Gefühl.

Es war schwierig auch nur ansatzweise ganz zu verstehen, was dort vor sich ging, doch je länger ich es versuchte, desto klarer wurde die Szenerie vor meinen Augen. Und umso deutlicher wurde ein Satz, welcher wie ein Echo in meinem Kopf hin und her geschleudert wurde: "Ich bin Francis. Wollen wir Freunde sein?"

"-borah? Deborah? Deb?!" Cheryls wiederholend auf mich einwirkende Stimme holte mich in das Hier und Jetzt zurück und ließ das Bild zurück in die Dunkelheit verschwinden. Zurück blieb der verlassen Spielplatz.
"Was machst du hier? Ich hab eine halbe Ewigkeit nach dir suchen müssen und mir wirklich Sorgen gemacht. Lass uns gehen, du zitterst ja schon." Ein unterschwelliger Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit, während sie besorgt auf mich herabblickte. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, wie sich die Kälte ihren Weg durch die Lagen meiner Jacke gebahnt hatte und meinen gesamten Körper starr und eisig hatte werden lassen. Und tatsächlich ging ein leichtes Zittern durch meinen Körper und leise klapperten meine Zähne aufeinander. Hatte ich wirklich so lange hier gesessen? War ich so lange in meiner Erinnerung versunken gewesen, dass ich nichts mehr um mich herum wahrgenommen hatte?
Im Auto angekommen erwies sich die Heizung als wohltuende Erlösung von der Kälte. Während meine Gliedmaßen langsam wieder auftauten, starrte ich aus dem Wagenfenster, während die Umgebung in einem Einheitsbrei aus Grau vorüberzog.
"Warum warst du überhaupt auf dem Spielplatz? Hatten wir nicht abgemacht, dass ich dich vor der Schule abholen würde?", wollte meine Schwester wissen, während sie herunterschaltete, um in einen Kreisverkehr einzufahren.
"Ich habe mich an etwas erinnert...", antwortete ich ihr mit leiser Stimme, wobei ich es kaum selber zu glauben schien. Es blieb still, während das Ticken des Blinkers verstummte, als sie die gewünschte Ausfahrt genommen hatte und das Summen des Motors wieder lauter wurde.

"Was hast du gesagt?"


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⏰ Last updated: Oct 28, 2018 ⏰

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