5. wie alles begann

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"Ich habe deinen Bruder bei einer Party von Caleb kennengelernt. Damals war ich 16 und dein Bruder 17."

Caleb. Vielleicht gehörte ihm die Stimme, die vorhin meine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

"Wir haben uns eigentlich sofort ziemlich gut verstanden. Caleb hatte ihn eingeladen, da sie ab und zu gemeinsam Football spielten. Seit diesem Abend trafen wir uns alle immer öfter. Manchmal um eine Party zu schmeißen oder um einfach nur ein Footballspiel zu sehen."

Wie als würde er gerade einfach nur in schönen Erinnerungen schwelgen, fingen seine Augen an zu funkeln.

"Kurz vor dem Tod deines Bruders waren wir alle bei einer Party. Calebs kleine Schwester war auch dort. Sie war gerade erst 14 und tierisch verknallt in Cole. Doch dein Bruder wusste, dass sie viel zu jung für ihn war. Trotzdem vermutete ich, dass er sie ganz interessant fand. Serena sah für ihr Alter eigentlich auch ziemlich erwachsen aus. Meine Vermutung hat sich schließlich bestätigt sich, als wir sie noch in der selben Nacht halbnackt und komplett unter Drogen in ihrem Zimmer gefunden haben. Neben ihr auf dem Boden saß dein Bruder. Daher glauben wir, dass er es war, der sich an ihr zu schaffen gemacht hat."

"Wir vermuten es nicht. Wir wissen es", knurrte eine raue Stimme und jemand erschien im Türramen. Ein junger Mann mit dunklen, unordentlichen Haaren. Seine Hände waren in den Taschen seines Pullovers vergraben und durch seinen Blick konnte ich vermuten, dass vor langer Zeit etwas tief in ihm zerbrochen war. Er kam zu uns in den Raum und stellte sich hinter Gabriel.

"Meine Schwester konnte sich noch nicht einmal irgendwelche Bilder von ihm ansehen, ohne dass es in einer Panikattacke endete."

Sein Kiefer spannte sich an und er sah mich mit einem so leeren Blick an als würde Cole persönlich vor ihm stehen.
Der Mann musste dieser Caleb sein, von dem Gabriel die ganze Zeit sprach. Und nach der ganzen Geschichte, konnte ich seinen Hasserfüllten Blick sogar nachvollziehen.

Gabriel sah besorgt zu seinem Freund auf und erhob sich im nächsten Moment von der Matratze.

"Geh bitte zu Jason und hilf ihm beim Kochen. Ich werde ihr den Rest erzählen." Caleb wandte nun den Blick von mir ab und schien sich dadurch auch ein wenig zu beruhigen.
Doch Gabriel zögerte und bewegte sich keinen Millimeter.
"Keine Sorge", seufzte Caleb. "Ich werde ihr nichts tun. Du weißt, dass ich die Aktion von Jason genauso scheiße finde wie du."

Nach einigen Minuten von stillem anstarren, herrschte zwischen Caleb und mir so eine starke Spannung, dass um uns herum die Welt hätte untergehen können und uns hätte es nicht betroffen. Der Glauben daran, dass Cole wirklich tot ist, zerbrach immer und immer weiter. Ich hatte nie seine Freunde kennengelernt. Nie von irgendwelchen Party Geschichte erfahren.
Wer weiß wie viel er mir noch verheimlicht hatte.

"Sam." Caleb ließ die Stille verschwinden und lehnte seinen Rücken gegen eine der Wände. Sie verlieh ihm Halt und brachte ihn dazu, das zu Ende zu bringen, was Gabriel begonnen hatte.
"Dein Bruder wollte weg von hier. Er hat es nicht ausgehalten, dass seine besten Freunde ihn gehasst haben. Dass er es nicht schaffte, sich der Polizei zu stellen. Aber Selbstmord war für ihn von Anfang an kein Ausweg. Deswegen ist er abgehauen. Und wir brauchen dich um ihn zu finden. Er hat seinen Tod nur vorgetäuscht, Sam. Denk darüber nach...ergibt nicht alles einen Sinn?"

Ich fing wirklich an darüber nachzudenken.

Der Brief. In seinem Abschiedsbrief stand bestimmt in jedem Satz wie Leid es ihm tut, dass er mich alleine lassen musste.

Die Ermittlungen. Alles was uns die Polizei über seinen Tod sagen konnte, hatten sie aus meinem Brief. Es gab keine Beweise.

Und schlussendlich. Das Begräbnis.
Der Sarg, der damals begraben wurde war voll mit Wertgegenständen von Cole. Es wurde nie eine Leiche gefunden. Bis heute nicht.

Oh mein Gott.
Er lebte noch.
Mein Bruder lebte.
Er hatte mich mit unserem Onkel alleine gelassen. Wieso? Wieso hatte er mir das angetan? Er wusste doch ganz genau, was auf mich zukommen würde.
Ein drei Jahre langer Kampf voller Leid wäre mir erspart geblieben.

Erst als eine kleine Wasserperle auf meinen Unterarm tropfte, spürte ich wie sich vereinzelt Tränen den Weg über meine Wangen bahnten. Sie waren gemischt mit Freude, Wut und vor Allem Angst.
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn nach all den Jahren überhaupt wieder sehen wollen würde.

Mein Bruder war nicht nur ein Vergewaltiger, sondern auch ein Feigling. Anstatt sich der Situation zu stellen, ist er abgehauen. Und mich dabei zurück zu lassen, war wohl kein Grund für ihn es doch nicht zu tun.

Wie konnte es ein 19 jähriger überhaupt schaffen alleine durch die Runden zu kommen? Ohne einen Job und ohne irgendwelche Verwandten oder Freunde die ihn unterstützen konnten.
Vielleicht war er inzwischen wirklich schon tot.
Vielleicht wäre das auch gut so, nachdem er jemanden etwas so schreckliches angetan hatte, wie Calebs Schwester.

Ich fühlte mich als hätten Caleb und Gabriel von einem völlig fremden Menschen gesprochen. Als wäre mein Bruder durch jemand anderen ausgetauscht worden.
Eigentlich hätte ich mich schlecht fühlen sollen, so über ihn gedacht zu haben.
Doch es löste in mir nur eine riesige Enttäuschung aus und so langsam konnte ich verstehen, wieso Caleb sich anscheinend so ungern in meiner Gegenwart aufhielt.

Cole und ich waren Geschwister. Wir waren Jahre lang für einander da gewesen. Er hatte also jedes Recht dazu zu denken, ich wäre wie mein Bruder.

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Das erste Kapitel meines Adventspecials :)

Ich hoffe wirklich ich schaffe es jedes Wochenende die entsprechende Kapitelanzahl zu Posten.

Freue mich aber wirklich über eure Unterstützung ♡♡

Übrigens auch DANKE für die 300+ Reads und die fast 100 Votes


Lg ines

Finding Truth Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt