Ich schlang meine dünnen Arme um den Körper und sah mich zitternd um. So ein Mist! Dabei war es gerade mal Anfang Herbst. Die Sonne, die sich langsam hinter dem Berg hervorquälte, machte meine Situation nicht gerade besser. Ich stand, wie jeden morgen vor der grauen alten Bank, die neben einem großen Schild mit einem gelb-grünen 'H' auf der Vorderseite stand und schaute, auf der Unterlippe kauend, auf meine schwarze Armbanduhr. Viertel vor acht. Schon wieder zu spät, dachte ich halbherzig. Ich malte mir schon das Gesicht meiner Lehrerin aus, wenn ich (wieder mal) mit hochrotem Gesicht in die stille Klasse stürmen würde und ein gequetschtes 'Entschuldigung' rausbringen würde. Doch was war das schon. Tat doch nichts zur Sache, oder? Mh. Die Lehrerin konnte mich mal. Ihre Meinung war mir egal, so oft sie mich auch mit ihrer tadelnden Stimme belehren würde. Nein, was mir einen eiskalten Schauer, gefolgt von einem fiebrig hitzigem, über den Rücken jagen würde, wären die Augen, sämtlicher Schüler meiner Klasse, die sich in meinen Körper bohren würden. Nicht hinschauen. Nicht hinschauen. Auf dem Boden starren. Nicht den Kopf heben. HEB NICHT DEN KOPF, schallte es in meinem Kopf. Und dann Geflüster. Gekicher. Blöde Blicke. Aus irgendeiner Ecke getuschel. "Guck mal wie rot die wird"
Bei diesem Gedanken schüttelte es mich und ich zog meine rote Wollmütze tiefer ins Gesicht, um meine glühenden Wangen hinter meinen Armen zu verstecken. Vielleicht sollte ich doch lieber zu Hause bleiben. Kopfweh oder sowas. Nein, das hatte ich erst letzte Woche gebracht, als ich Sport schwänzen wollte. Ich war nie besonders sportlich gewesen und der Fakt, dass ich nicht gerade beliebt in meiner Klasse war, hatte da nicht gerade geholfen. Niemand wollte bei Teamspielen in meine Gruppe und ich will gar nicht erst mit Partnerübungen anfangen!
Ich seufzte tief. Egal für was ich mich entscheiden würde. Ich musste eh zurück. Meine Mutter müsste mich fahren. Also drehte ich mich um und ging zaghaft den steinigen Weg zurück. Kleine Schritte. Du brauchst dich ja jetzt nicht mehr beeilen. Fast schon im Schneckentempo ging ich an den kleinen bunten Häuschen vorbei, die am Waldrand grenzten. Was ein scheiß Tag.
Ich entschied mich, für einen kleinen Umweg, am Wald entlang. Es würde weniger auffallen, wenn ich zur zweiten Stunde käme, also langsam. Zeit lassen.
Der Weg führte an einer kleinen Kreuzung vorbei. Ich kickte gedankenverloren Steine umher, bis plötzlich ein Wind aufkam. Überrascht blickte ich auf und schenkte dem Waldweg meine Aufmerksamkeit. Wäre ich doch nur weitergegangen.
Es war sonderbar. Etwas zog mich in diese Dunkelheit. Ich spürte die faulige Nässe der Blätter in meiner Nase kitzeln.Nichts tun. Kälte. Daliegen. Keine Emotionen. Stumpfe Eindrücke. Dieser Wald. Bilder. Nein! Lauf! Renn! Mach, dass du wegkommst!
Ein Funke des Lebens. Dann wieder ein Sog. Kälte.Ich hatte keine Kontrolle über meine Beine. Sie trugen mich willenlos in diese Schwärze hinein, voller Schatten. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Wie lang war ich schon gelaufen? Ich wusste es nicht.
Es war seltsam still. Kein Rauschen der Bäume und selbst meine Füße, schienen auf Watte zu laufe. Komisch. Alles vergessen.
Ich kam schließlich an eine Lichtung und zog meine Mütze ab. Die letzten Meter war ich fast gerannt. Wieso? Ich wusste es nicht. Es war ganz plötzlich passiert. Ich atmete schwer und genoss den kühlen Wind an meinen Ohren.
Urplötzlich raschelte es. Ich drehte mich um und wich sogleich mit aufgerissenen Augen zurück. Da war etwas gewesen. Ich war mir sicher!Zu spät. Zu spät! ZU SPÄT!
Angst kroch mir wie ein riesiges Untier über den Körper. Ich fühlte die bohrenden Blicke, als wäre ich wieder in meiner verhassten Klasse, doch woher? Und dann dieser Sog. Etwas unsichtbares zog an mir, an meinem Inneren. Kälte. Mit einem Mal war alles kalt. Nichts schien mehr Sinn zu machen. Es schien mir das Leben aus dem Körper gezogen zu haben. Doch noch hatte ich die Kontrolle. Noch hatte ich die Kraft. War nicht schwach. Noch nicht.
Also riss ich mich los und rannte, rannte um mein Leben, aus diesem verfluchten Wald. Langsam drang das Lebensgefühl zurück. Nur etwas blieb. Kälte.
Ich war endlich den Bäumen entkommen und dem, was darin lauerte. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und erst jetzt fiel mir auf, was fehlte. Meine Mütze. Ich hatte sie wohl fallen gelassen. Aber ich konnte nicht zurück. Nein, ich wollte nicht zurück. Also hetzte ich weiter, ohne die rote Mütze. Weg von dem Wald.
Nur eines blieb.
Kälte.
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Das Mädchen ohne Seele
DiversosWas, wenn das einzige, was in deinem Leben Sinn macht, einfach genommen wird? Was, wenn sich plötzlich alles gegen dich verschworen hat? Und die Dunkelheit dir alles nimmt....